Herr Straubhaar, manchmal werden Sie als Querdenker unter den Ökonomen vorgestellt. Wie finden Sie diesen Titel?
Thomas Straubhaar: Nun, es gehört zu einem guten Ökonomen, grundsätzlich alles zu hinterfragen. So wurden und werden wir schliesslich ausgebildet. Wir lernen, theoretische Hypothese zu bilden und sie anschliessend empirisch zu testen. Das hat mich geprägt. In dem Sinne bin ich als politischer Ökonom sehr kritisch allem gegenüber, was ich lese und höre. Je mehr Menschen in eine Richtung marschieren, umso mehr frage ich mich, ob der Kurs richtig ist und bleibt. Oder ob es nicht oft einer anderen Perspektive bedarf.
Thomas Straubhaar ist Professor für Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Hamburg. Von 2005 bis 2014 war er Direktor des damals neu gegründeten Hamburgischen Weltwirtschafts-Instituts. Der Schweizer lebt seit knapp 30 Jahren in Hamburg.
Sie haben sich im März relativ schnell und entschieden gegen einen umfassenden Lockdown ausgesprochen. Welchen Schaden hat der wochenlange Stillstand für die Wirtschaft angerichtet?
Bei jeder Politik gilt es zwischen zwei Fehlern abzuwägen, entweder zu viel zu tun oder zu wenig. Gute Politik ist die Suche nach der richtigen Mitte zwischen beiden Arten von Fehlern. Rückblickend betrachtet hat man am Anfang in der Schweiz und in Deutschland zwar vieles richtig gemacht, wobei es im internationalen Vergleich noch moderate Eingriffe waren. Nichtsdestotrotz waren und sind die ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen einschneidend.
Ist das jetzt ein gutes oder schlechtes Zeugnis für die Politik?
Doch, insgesamt kann man schon von einer erfolgreichen Bewältigung der Krise sprechen.
Die Politik halt also nicht überreagiert?
Nicht in dem Sinne, dass man in der damaligen Situation auf relativ schwer abschätzbare Risiken sehr schnell reagieren musste. Im Nachhinein sollte aber die Lehre sein, dass wir nicht noch einmal in dieser Heftigkeit mit einer Vollbremsung von Wirtschaft und Gesellschaft reagieren können. Ökonomen sind überzeugt, dass Menschen lernen und sich veränderten Rahmenbedingungen anpassen. Und wir haben ja immens viel gelernt in der Corona-Krise. Das sollten wir jetzt für neue Anpassungsstrategien nutzen.
«Das momentan grösste Risiko für Wirtschaft und Gesellschaft ist, dass wir nicht bereit sind, ein Risiko einzugehen.»
Zum Beispiel?
Wir haben mit vergleichsweise bescheidenen Mitteln eine relativ grosse Wirkung erzielen können. Sei es durch das Tragen von Masken oder der Einhaltung von Abstandsgeboten und Hygienevorschriften. Das sind alles vergleichsweise milde Eingriffe, welche die Wirtschaft und die Gesellschaft weitgehend unberührt lassen, aber einen grossen Effekt haben. Diese sogenannte 80-20-Strategie ist eine der Lehren der letzten Monate aus, der wir die richtigen Schlussfolgerungen für die Zukunft ziehen sollten.
Oft hört man von Experten, dass die Wirtschaft einen zweiten Lockdown nicht überstehen würde. Das hört sich sehr dramatisch an. Bei einem möglichen Lockdown im Winter stünde uns also das Ende bevor?
Das momentan grösste Risiko für Wirtschaft und Gesellschaft ist, dass wir nicht bereit sind, ein Risiko einzugehen. In der nächsten Phase sollten wir im Kampf gegen Corona lieber etwas zu wenig als zu viel tun. Ja, der Winter wird zu einem Anstieg der Infektionszahlen führen. Es wird mehr getestet und bei Kälte verbreitet sich das Virus offenbar schneller. Doch jetzt kommt der entscheidende Punkt.
Bitte.
Ein starker Anstieg der Neuinfektionen im kommenden Winter hätte ja nicht die gleichen Folgen wie noch vor einem halben Jahr. Erstens haben wir gelernt, wer wo besonders gefährdet ist und demzufolge wie zu schützen ist. Zweitens wissen wir heute besser, wie wir mit dem Virus und der Erkrankung umgehen müssen. Die Spitäler haben die Kapazität, mehr Erkrankte behandeln zu können. Das heisst: Die Notwendigkeit eines erneuten Lockdowns ist nicht mehr da. Die Folgekosten des Kampfes gegen Corona wären grösser als der Schaden des Virus selber – das gilt auch mit Blick auf Gesundheit und Lebenserwartung der Bevölkerung.
«Wenn die Gastro-Betriebe im Winter nur noch ein Drittel an Gästen bewirten können, sind Konkurse zwangsläufig in Aussicht.»
Die Bilanzsaison der Unternehmen in der Schweiz fiel weit weniger schlecht aus als erwartet. Vor allem der Ausblick hat bei vielen Firmen positiv überrascht. Zeigt das nicht, dass die Firmen viel besser mit den Corona-Folgen umzugehen wussten, als wir befürchtet hatten?
Doch, genau. Und es ist für Ökonomen auch keine grosse Überraschung, weil nicht nur Menschen sich an veränderte Rahmenbedingungen anpassen können, sondern auch Firmen. Vor allem KMUs passen sich sehr schnell an neue Bedingungen an. Und in der Schweiz haben wir ja eine mittelständische Struktur mit unglaublich vielen kleinen Firmen. Viele konnten schnell und flexibel reagieren. Etwa durch einen einschneidenden Kostenabbau.
Das klingt doch alles gar nicht so schlecht.
Entscheidend ist allerdings, dass ein Überleben auch mit staatlicher Unterstützung gelungen ist. Der Staat ist massiv eingesprungen für den Ausfall von Erträgen. Viele Firmen haben sich durch die Kurzarbeit retten können. Das kann aber nicht der permanente Zustand sein. Irgendwann müssen sie als Firma wieder Erträge generieren. Als kleines Reisebüro oder als Restaurantbetreiber können sie die ausfallenden Umsätze nicht ewig überbrücken. Die Gastro-Betriebe können im Sommer noch nach draussen ausweichen. Wenn sie im Winter nur noch ein Drittel an Gästen bewirten können bei Fixkosten, die gleich bleiben und variablen Kosten, die nur unwesentlich weiter gesenkt werden können, sind Konkurse zwangsläufig in Aussicht.
Die Zahlen geben also nur scheinbar Grund zur Hoffnung?
Mein Plädoyer ist, dass wir uns von Ergebnissen vieler Firmen, die in der Tat gut ausfielen, nicht dahingehend täuschen lassen dürfen, dass KMU auch ein zweites oder gar drittes Mal unbeschadet davonkommen können. Irgendwann ist das ursprünglich sehr solide Fundament so geschwächt, dass es zusammenstürzt.
Ein vielzitierter Spruch ist derzeit «Corona ändert alles». In Bezug auf die Wirtschaft: Ändert Corona alles?
Nein. Das ist bei weitem eine Überschätzung dessen, was eine Krise letztlich verursachen kann. Es ist ja weder die erste noch die letzte Pandemie, die wir erleben. Allerdings ist Corona zweifellos ein Beschleuniger und Augenöffner. Es hat uns Schwächen des Systems aufgezeigt, die schleunigst behoben werden müssen, etwa die Abhängigkeit von China und von globalen Wertschöpfungsketten. In Fragen der Digitalisierung oder der Arbeitsplatzgestaltung hat es die Weiterentwicklung zu Home Office und Dezentralisierung beschleunigt. Diese Transformationsprozesse starteten aber schon lange vor Corona.
«Die Globalisierung wird nicht zum Erliegen kommen, aber sie wird ihr Gesicht verändern.»
Ihr Berufskollege Tobias Straumann von der Uni Zürich argumentierte jüngst in einer Kolumne, dass die Globalisierung in der Geschichte schon immer wechselhaft Rückschritte und Fortschritte erlebt habe, aber nie wirklich vor dem Ende stand. Bildet auch Corona hier keine Ausnahme?
Die Globalisierung wird nicht zum Erliegen kommen, aber sie wird ihr Gesicht verändern. Sie wird weiterhin ein ganz starker Motor für Arbeitsteilung, Spezialisierung und damit für Wohlstand bleiben. Aber die Digitalisierung wird die Globalisierung in weiten Teilen nicht nur ergänzen, sondern auch ersetzen. Warenströme werden weniger werden. Dafür dürften die Datenflüsse ansteigen. Aber ja, Veränderungen bei der Globalisierung mit Aufs und Abs sind in der Tat kein neues Phänomen.
In unserem letzten Interview Anfang Jahr sagten Sie, die zehnjährige Hausse an den Aktienmärkten sei Ihnen keinesfalls unheimlich. Gilt das auch für die schlagartige Erholung der Kurse nach dem Corona-Schock?
Absolut. Für Postcorona gilt das gleiche, was ich damals zum langfristig positiven Trend gesagt habe: Die Basis für die langfristigen Transformationsprozesse bleibt trotz Corona unverändert bestehen. Wir sehen eine weiterhin ungebrochene Zunahme der Weltbevölkerung, Aufholprozesse in den ärmeren Weltregionen, die Transformation in Richtung einer digitalen Wirtschaft. Zudem werden viele Innovationen nötig sein, um der Klimaproblematik Herr zu werden. Das alles gilt nach wie vor. In der Masse bringt das alles Rückenwind für die Aktienmärkte.
Was spricht langfristig noch für die Aktienmärkte?
Dass sich auf absehbare Zeit die Zinspolitik nicht wesentlich verändern wird. Die klassische Alternative der vergleichsweise risikoarmen festverzinslichen Staatspapiere wird weiterhin kaum attraktiv sein. Das wird Aktien noch lange zugutekommen.
- Dieser Beitrag erschien zuerst in «Cash.ch» unter dem Titel: «Das grösste Risiko für die Wirtschaft ist, dass wir keine Risiken eingehen wollen».