Die Gründung der ‹Handelszeitung› passt sehr gut in das Jahr 1861», sagt Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann. «Das war eine absolute Aufbruchszeit, wirtschaftlich und politisch.» Und das Blatt bildete diese unternehmerische Euphorie ab.

Als «Schweizerische Eisenbahn- und Handelszeitung», wie sie damals heisst, ist sie das Sprachrohr einer dynamischen Startup-Szene.

Die Schiene ist das neue, grosse Ding: Nachdem 1844 in Basel die ersten Züge aus dem Elsass ankamen und 1847 die Strecke zwischen Baden und Zürich eröffnet wurde, entwickelt sich ein wilder Eisenbahnboom landauf, landab. Die Bahn ist Gamechanger und Spekulationsvehikel zugleich.

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RHEIN BRIDGE IN BASEL

Reiche Handelsstadt: Basel im 19. Jahrhundert.

Quelle: Keystone

Private Unternehmen buhlen um staatliche Konzessionen und versuchen sich gegenseitig die Wege abzuschneiden. Wichtige Player sind die Centralbahn aus Basel mit dem Bahnkreuz Olten und die Schweizerische Nordostbahn von Zürich.

Eine Stimmung wie nach der Erfindung des World Wide Web

Die Zeit könne man am besten mit dem Dotcom-Boom der neunziger Jahre vergleichen, sagt Historiker Straumann. Dank der Bahn verlassen die Menschen erstmals ihre Dörfer und Städte, in denen sich zuvor das Leben abspielte. Ein Binnenmarkt entsteht.

Gleichzeitig beschleunigt die Verbreitung des Telegrafen ab den 1850er Jahren die Kommunikation. Plötzlich kann man Nachrichten in Echtzeit übermitteln.

Grosse Unternehmen entstehen, die teilweise noch heute tonangebend sind. Die Credit-Suisse-Vorgängerin Schweizerische Kreditanstalt (SKA) wurde bereits 1856 gegründet, um Zürcher Eisenbahn-Vorhaben zu finanzieren. Das spekulative Geschäft mit Grossrisiken steckt seit der Firmengründung in ihren Genen.

Bahnhofshalle in ZA 1/4rich anno 1867

Für die Nordostbahn: Bau der Bahnhofshalle, Zürich (1867).

Quelle: ETH-Bibliothek

Doch die Gründerzeit beschränkt sich nicht auf die Bahn. Die Wirtschaft ist im Wandel. In den 1850er Jahren entstehen die Versicherungen Swiss Life und Helvetia und 1860 wird in Basel das Chemieunternehmen Ciba gegründet, das später in der heutigen Novartis aufgeht.

In den 1860er Jahren folgen Vorgängerfirmen späterer Grossunternehmen wie UBS, Nestlé, Coop oder Swiss Re (siehe Tabelle).

Woher stammt das Kapital für diese Gründungen? Einerseits aus Frankreich, mit dem die Schweiz – insbesondere über die Handelsstädte Basel und Genf – Handel treibt; andererseits aus den Gebieten im heutigen Deutschland. Die Centralbahn wird von Pariser Banken finanziert, die SKA mit Kapital aus Deutschland.

Viel Geld stammt aber auch aus der Schweiz, denn diese ist längst nicht mehr der arme Bauern- und Söldnerstaat früherer Jahrzehnte.

Gründerboom um 1861

Wichtige Gründungen vor 1861

  • Schweizerische Centralbahn (heute SBB), Basel 1853
  • Schweizerische Kreditanstalt (heute Credit Suisse), Zürich 1856
  • Swiss Life, Zürich 1857
  • Helvetia, St. Gallen 1858
  • Bühler, Uzwil SG 1860
  • Heuer (heute TAG Heuer/LVMH), Saint-Imier BE 1860
  • Ciba (heute Novartis), Basel 1860

Wichtige Gründungen nach 1861

  • Kaba (heute Dormakaba), Zürich 1862
  • Basler Handelsbank (heute UBS), Basel 1862
  • Bank in Winterthur (heute UBS), Winterthur 1862
  • Bâloise, Basel 1863
  • Schweizerische Lloyd (heute Helvetia), Winterthur 1863
  • Swiss Re, Zürich 1863
  • Allgemeiner Consumverein (heute Coop), Basel 1865
  • Siber & Brennwald (heute DKSH), Yokohama 1865
  • Nestlé, Vevey 1866

«In den 1860er Jahren ist die Schweiz das am meisten industrialisierte Land auf dem europäischen Festland», sagt Straumann. Vor allem in der Zentral- und Ostschweiz sind Textilunternehmer mit der Verarbeitung von Baumwolle zu Geld gekommen. 2,5 Millionen Menschen wohnen 1861 im Land.

Nur gerade ein Fünftel davon lebt noch von der Landwirtschaft. Der Rest steht der Industrie grösstenteils als Arbeitskräfte zur Verfügung. Billige Arbeitskräfte.

Die Schweiz ist ein Tigerstaat. Die Wirtschaftsstruktur ähnle jener eines ostasiatischen Schwellenlandes, sagt Straumann. Es gibt ein Überangebot an Arbeitskräften und einen wirtschaftsliberal gesinnten Staat mit wenig Vorschriften für Unternehmer.

Wie später China oder Indien ist die Schweiz eine Exportnation, die erfolgreich in Märkten mit dünnen Margen operiert. Für die Arbeiter sind die Zustände schlecht.

Das berühmte Fabrikgesetz, das Minimalstandards definiert, entsteht erst 1877. Doch das Land als Ganzes ist wohlhabend und auf dem Weg zur reichsten Nation der Welt.

Dabei gibt es «die Schweiz» im Jahr 1861 eigentlich noch gar nicht. Zwar hat die Bundesverfassung von 1848 den Grundstein für die moderne Eidgenossenschaft gelegt. Doch Bern ist weiterhin schwach. Die Bundesverwaltung beschränkt sich in erster Linie auf das Einziehen von Zöllen, wie der Jahresbericht des Bundesrates zum Jahr 1861 zeigt.

Etwas anderes als Zolltarife, Handelsbeziehungen und Ein- und Ausfuhrmengen wird auf den 44 Seiten kaum behandelt.

Mit der Post und der ETH gibt es zwar erste nationale Institutionen. Und bereits 1850 wurde der neue Schweizerfranken als gemeinsame Währung aller Kantone eingeführt. Doch der Einfluss der Eidgenossenschaft auf die Währung ist gering. Ab 1865 ist die Schweiz Teil einer Währungsunion mit einheitlichen Goldmünzen in Frankreich, Belgien und Italien.

Banknoten wiederum werden von privaten und staatlichen Banken in den Kantonen ausgegeben. Erst 1907 wird die Notenausgabe an die neu gegründete Nationalbank übertragen.

Zürich hinter Basel und Genf noch auf Rang drei

Und noch etwas ist anders. Zürich wächst zwar langsam, ist 1861 politisch und wirtschaftlich jedoch noch relativ unbedeutend. «Die Stadt liegt zu der Zeit noch auf Rang drei, deutlich hinter Basel und Genf», sagt Straumann. Die moderne Schweiz wurde massgeblich von Basel aus gestaltet.

Die mit Handel reich gewordene Stadt ist in der Deutschschweiz tonangebend. Doch langsam beginnt sich die Vorherrschaft Zürichs abzuzeichnen. Dank der Bahn findet sich die Stadt plötzlich im Zentrum einer immer mehr vernetzten Nation. Die in Europa gut vernetzten Handelsstädte Genf und Basel und die Industriestadt St. Gallen hingegen liegen an den Endstationen. 

Gleichzeitig machen die Bankiers in Basel einen strategischen Fehler, indem sie am lukrativen Private Banking, der Vermögensverwaltung mit reichen Privatkunden, festhalten, während in Zürich mit der SKA das moderne Investment Banking erfunden wird.

Seidenweberin an ihrem Handwebstuhl im Toggenburg um 1890. (KEYSTONE/Photopress-Archiv/Str)

Die Textilindustrie basierte auch auf Heimarbeit (undatiert).

Quelle: Keystone

Ende des 19. Jahrhunderts hat Zürich den beiden anderen Bankenplätzen den Spitzenrang abgelaufen. Für die noblen Basler muss es einer Schmach gleichkommen, als sich ihr Bankverein 1898 gezwungen sieht, am Zürcher Paradeplatz neben der SKA eine eigene, grosse Niederlassung zu errichten.

Für die Unternehmer und Investoren ist der Eisenbahnboom des 19. Jahrhunderts alles andere als eine Erfolgsgeschichte. Immer wieder muss sich die «Handelszeitung» über schlechte Geschäftsführung, Sicherheitsprobleme und finanzielle Verluste auslassen.

Die Bahngesellschaften leisten sich ruinöse Wettkämpfe, und bereits zur «Handelszeitung»-Gründerzeit wird über eine Verstaatlichung der Bahnen spekuliert.

1891 ereignet sich der bis heute schlimmste Eisenbahnunfall der Schweizer Geschichte, als bei Münchenstein in Baselland eine Brücke einstürzt und 73 Passagiere in den Tod reisst.

Wenige Jahre später beginnen die Verstaatlichungen. 1909 lösen die neu gegründeten Schweizerischen Bundesbahnen die meisten damaligen Bahnunternehmen ab.

Die Blase ist geplatzt.