In den letzten Monaten hat sich eine pessimistische Sicht auf China verbreitet, die von der Angst vor einer «chinesischen Kernschmelze» geprägt ist und seit Anfang des Jahres Schockwellen durch die weltweiten Aktienmärkte sendet. Und so gut wie jeder, so scheint es, wettet auf den Niedergang des Landes.
Sicherlich gibt es viele Gründe zur Sorge. Das Wirtschaftswachstum ist stark zurückgegangen; die Schuldenquoten der Konzerne sind beispiellos hoch; die Währung rutscht ab; die Aktienmärkte sind besonders volatil; und das Kapital fliesst mit einer alarmierenden Geschwindigkeit aus dem Land. Die Frage ist, warum dies geschieht und ob die chinesischen Behörden etwas dagegen tun können, bevor es zu spät ist.
Chinas Problem ist nicht der «Wandel»
Die allgemeine – und offizielle – Sichtweise ist, dass sich China in einem Wandel hin zu einer «neuen Normalität» niedrigeren Wachstums befindet, das nicht mehr auf Exporten beruht, sondern auf dem Konsum im Inland. Und wie üblich tauchten ein paar ökonomische Studien auf, die dieses Konzept untermauern. Diese Interpretation mag zwar bequem sein, verbreitet aber eine falsche Sicherheit.
Chinas Problem ist nicht der «Wandel». Das Problem ist, dass die Privatwirtschaft durch den staatlichen Sektor erstickt wird. Billiges Land, billiges Kapital und Vorzugsbehandlungen für staatseigene Unternehmen schwächen die Wettbewerbsfähigkeit der Privatfirmen, die mit hohen Kreditkosten leben und sich oft über Familie und Freunde finanzieren müssen. Infolge dessen wendeten sich viele Privatunternehmen von ihrem Kerngeschäft ab, um auf den Aktien- und Immobilienmärkten zu spekulieren.
Chinas Haushalte unter Druck
Auch die chinesischen Haushalte sind unter Druck. In nur fünfzehn Jahren ist das Haushaltseinkommen von 70 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) auf 60 Prozent gefallen. Wenn die chinesischen Haushalte nicht ihren fairen Anteil an den Vorteilen des Wirtschaftswachstums bekommen, kann man sich kaum vorstellen, dass der Konsum steigt. Um die Dynamik des privaten Sektors zu entfesseln und die Nachfrage der Haushalte anzukurbeln, muss China mutige Schritte unternehmen.
China hat bereits seine Fähigkeit zur Durchführung radikaler Reformen bewiesen, die grosse Verzerrungen beseitigen, das Wachstum fördern und überschüssige Schulden abbauen. Ende der 1980er Jahre wurde aufgrund des sinkenden BIP-Wachstums (1989 erreichte die jährliche Pro-Kopf-Rate einen Tiefstand von 2 Prozent) und des wachsenden Umfangs fauler Kredite eine wirtschaftliche Implosion des Landes erwartet.
Privatisierung der Industrie
Aber sie fand nie statt. Stattdessen führte die chinesische Regierung eine Reihe radikaler Reformen durch, darunter eine umfangreiche Privatisierung der Industrie sowie die Abschaffung von Preiskontrollen, protektionistischer Politik und Regulierungen. Im Zuge des fallenden Staatsanteils an der nichtlandwirtschaftlichen Beschäftigung – von 30 Prozent Mitte der 1990er auf 13 Prozent bis 2007 – stieg die Produktivität des privaten Sektors von 1998 bis 2007 jährlich um durchschnittlich 3,7 Prozent. Dieses Produktivitätswachstum betrug in diesem Zeitraum etwa ein Drittel des gesamten BIP-Wachstums – das auf zweistellige Werte stieg. Ein weiterer mutiger Schritt, der zu diesem Erfolg beitrug, war China Beitritt zur Welthandelsorganisation im Jahr 2001.
Heute aber wird die Aufgabe, vor der Chinas Regierung steht, durch politische und soziale Hemmnisse erschwert. Die erforderlichen wirtschaftlichen Reformen setzen politische Reformen voraus, die aber von Sorgen über die sozialen Auswirkungen gehemmt werden. Will China einen wirtschaftlichen Abschwung vermeiden, muss es sein Regierungssystem – und die dahinter stehende Philosophie – sanieren, ohne dabei die soziale Stabilität übermässig zu gefährden.
Ideologischer Wandel erforderlich
Die gute Nachricht ist, dass das Land in diesem Bereich eine viel versprechende Geschichte von Erfolgen hat. Immerhin ging dem 35 Jahre andauernden chinesischen Wirtschaftsboom ein grundlegender ideologischer Wandel voraus. Im Rahmen dieses Übergangs wurde die Wirtschaftsentwicklung an erste Stelle gesetzt. Die Wachstumstreiber wurden geschützt, gefördert und nötigenfalls begnadigt.
Heute ist ein ähnlicher ideologischer Wandel erforderlich, aber dieses Mal muss der Schwerpunkt auf institutioneller Entwicklung liegen. Nachhaltiges Langzeitwachstum – auf der Grundlage von Effizienzverbesserungen, Produktivitätssteigerungen und Innovationen – ist nur innerhalb eines effektiven institutionellen Rahmens möglich, und dieser erfordert grundlegende Änderungen des politischen und regulatorischen Systems. Nur durch die Überwindung von Einzelinteressen und den Aufbau einer effizienteren Bürokratie auf einer soliden rechtsstaatlichen Grundlage können die benötigten Reformen durchgesetzt werden.
Wachsende soziale Konflikte
Komplizierter wird die Lage noch durch die wachsenden sozialen Konflikte – wie denjenigen zwischen der Stadt- und der Landbevölkerung, zwischen Industriezweigen und zwischen dem privaten und staatlichen Sektor. Die Möglichkeit von Massenprotesten und Bürgerunruhen hemmt nun den Willen der Regierung, Änderungen herbeizuführen. Aber durch gemeinsame Bemühungen zur Schaffung eines fairen Umfelds, in dem mehr Menschen ein grösseres Stück vom Kuchen bekommen, die Regierung transparenter wird und ein stärkeres soziales Sicherheitsnetz entsteht, könnte Chinas Regierung ihre Legitimität und Glaubwürdigkeit verbessern. Dies wiederum würde die Fähigkeit der Behörden verstärken, die Stabilität zu bewahren.
Chinas Erfahrungen aus den 1990ern legen nahe, dass sich das Land von seinen momentanen Problemen erholen kann. Auch wenn die grossen Reformen erst zur Hälfte umgesetzt wurden, gibt es doch erhebliche Möglichkeiten, nicht nur durch Konsum stabiles Wachstum zu erreichen, sondern auch durch höhere Effizienz und Produktivität. Sobald die grössten Verzerrungen beseitigt und die Ressourcen – wie Arbeit, Kapital und Talent – effizienter verteilt werden, wird China seinen Marsch in Richtung Wohlstand fortsetzen können.
Zuerst mag die chinesische Regierung zögern. Immerhin ist es schwer, an sich selbst einen chirurgischen Eingriff durchzuführen, und noch schwerer ist es, damit Erfolg zu haben. Aber wenn sich – wie zu erwarten ist – die wirtschaftlichen Bedingungen verschlimmern, ist entschiedenes Handeln nicht mehr zu vermeiden. Im Westen mögen gute Zeiten den Nährboden für Krisen bereiten. In China hingegen sind Krisen die Grundlage für bessere Zeiten.
* Keyu Jin ist Professor für Ökonomie an der London School of Economics, Young Global Leader beim Weltwirtschaftsforum und Beiratsmitglied der Richemont Group.
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