Trotz des ausserordentlichen Wachstums seit Beginn der Umstellung auf die Marktwirtschaft 1979 steht China vor mehreren Problemen gleichzeitig: zunehmende Ungleichheit, eine erhebliche und fortschreitende Beschädigung der Umwelt, hartnäckige außenwirtschaftliche Ungleichgewichte und eine alternde Gesellschaft.
Glücklicherweise berücksichtigt Chinas zwölfter Fünfjahresplan (2011-2015) die Notwendigkeit, die marktorientierte Reform zu vertiefen, das Entwicklungsmodell des Landes zu verändern und sich auf die Qualität des Wachstums, auf Strukturreformen und soziale Beteiligung zu konzentrieren, um das Entwicklungsgefälle zwischen Stadt und Land zu überwinden und die aufkommende Einkommensungleichheit anzugehen.
«China 2030» - die Hocheinkommens-Gesellschaft
Entsprechend diesem mutigen, langfristigen Ansatz schlägt ein neuer Bericht, China 2030: Building a Modern, Harmonious, and Creative High-Income Society Reformen vor, die mein Land braucht, um bis 2030 eine reife, gut funktionierende Marktwirtschaft aufzubauen.
Der Bericht ist das Ergebnis einer langen Partnerschaft zwischen China und der Weltbank. China 2030 plädiert für Strukturreformen, die die Rolle der Regierung neu definieren, staatliche Unternehmen und Banken modernisieren, den Privatsektor entwickeln, den Wettbewerb fördern und die Liberalisierung von Land, Arbeit und Finanzmärkten vertiefen würden.
Die chinesische Regierung würde zwar weniger materielle Güter, dafür aber mehr immaterielle Güter und Dienstleistungen bereitstellen, wie Regeln, Normen und politische Massnahmen. Diese Massnahmen sowie institutionellen Verbesserungen erhöhen die Produktivität, fördern Wettbewerb und Spezialisierung, verbessern die Effizienz der Ressourcenzuteilung, schützen die Umwelt und verringern Risiken und Ungewissheiten.
Wettbewerb in allen Sektoren
Im Unternehmensbereich liegt der Fokus auf der Ankurbelung des Wettbewerbs in allen Sektoren, Reduzierung der Hindernisse für Zugang und Abgang von privaten Unternehmen und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit staatlicher Unternehmen.
Im Finanzsektor muss das Bankensystem kommerzialisiert werden, was allmählich dazu führen wird, dass Zinssätze von Markt festgelegt werden, während die Kapitalmärkte wie auch die Entwicklung der rechtlichen und überwachenden Infrastruktur vertieft werden, die notwendig sind, um finanzielle Stabilität zu gewährleisten.
Auf dem Arbeitsmarkt muss China Reformen hinsichtlich des «hukou» (Haushaltsregistrierung) beschleunigen, um sicherzustellen, dass freie Arbeitnehmer sich bis 2030 frei in Reaktion auf Marktsignale bewegen können.
Erwerbsquote erhöhen
Zurzeit riskiert jeder, der ohne «hukou» in einen anderen Teil des Landes zieht, keinen Zugang zu Bildung, Sozialleistungen und dem Wohnungsmarkt zu erhalten. Die chinesische Politik muss auch Massnahmen einführen, um die Erwerbsquote zu erhöhen, die Lohnpolitik zu überdenken und Sozialversicherungsprogramme im ganzen Land zugänglich zu machen.
Schliesslich müssen Bauern geschützt, muss die Effizienz des Bodens erhöht und die Politik für den Erwerb von Land für urbane Nutzung modernisiert werden. Der mittelfristige Erfolg Chinas wird auch die Schaffung eines offenen Systems erfordern, in dem der Wettbewerbsdruck die chinesischen Firmen zu Produkt- und Prozessinnovation bringt. Nicht nur durch ihre eigenen Forschungs- und Entwicklungsbemühungen, sondern auch durch die Teilnahme an globalen F+E-Netzwerken.
Die Priorität besteht darin, die Qualität von F+E zu erhöhen, nicht nur die Quantität. Politiker müssen sich auf die Erhöhung der technischen und kognitiven Fähigkeiten von Doktoranden und auf den Aufbau einiger Eliteuniversitäten mit einer starken Verbindung zur Industrie konzentrieren.
Grüne Investitionen begünstigen
Eine aufgeklärte Strategie muss China dazu bringen, «grün» zu wachsen, nicht schnell und dann die massiven Umweltbelastungen später anzugehen. Die Förderung neuer Investitionen in eine energie- und ressourceneffiziente Industrie mit geringem Verschmutzungsgrad würde eine grünere Entwicklung begünstigen, Investitionen in damit zusammenhängende Herstellungs- und Dienstleistungssektoren begünstigen und einen internationalen Wettbewerbsvorteil in einer globalen Sonnenaufgangs-Industrie aufbauen.
China 2030 plädiert auch für einen Ausbau von Chancen, eine Förderung der Sozialversicherung und eine Reduzierung der relativ hohen sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit durch Lösung der grossen Differenzen zwischen Land und Stadt bei dem Zugang zu Arbeitsplätzen, Finanzierung und hochwertigen öffentlichen Leistungen. Das wird bedeuten, dass man unterversorgten ländlichen Gebieten und Migrantengruppen mehr Aufmerksamkeit schenken muss, und dass Sozialpolitik zur Bereitstellung von Schutznetzen neu geordnet werden muss.
Fiskalpolitik stärken
Zudem ist es von äusserster Wichtigkeit, Chinas Fiskalpolitik durch Mobilisierung zusätzlicher Umsätze zu stärken und sicherzugehen, dass lokale Behörden ausreichend finanziert sind, um ihre wachsenden Ausgabenverpflichtungen zu bewältigen. Diese Reformen können dazu beitragen, dass Haushaltsmittel auf den verschiedenen Ebenen der Regierung (national, Provinz, Präfektur, Kreis, Stadt und Dorf) bereitgestellt werden und mit den Ausgabenverpflichtungen übereinstimmen.
Schliesslich muss China ein proaktiver Stakeholder in der globalen Wirtschaft werden. Durch eine fortgesetzte Intensivierung des Handels, der Investitionen und der Finanzanbindung auf globaler Ebene, die dem Land in den vergangenen drei Jahrzehnten gut gedient hat, würde sich China weiter spezialisieren und zunehmende Investitionschancen, höhere Renditen und sich gegenseitig befruchtende Ideen- und Wissenstransfers nutzen können.
Internationalisierung des Renminbi
China muss sich weiterhin der Wiederbelebung der festgefahrenen Doha-Runde für multilateralen Handel widmen und eine globale Vereinbarung über Investitionsflüsse unterstützen. Die globale Integration des chinesischen Finanzsektors erfordert die Öffnung der Kapitalbilanz, was mit Vorsicht geschehen muss. Aber es wird ein wichtiger Schritt hin zur Internationalisierung des Renminbi als globale Devisenreserve sein.
Die Vorschläge von China 2030 könnten ein Rahmen für chinesische Politiker sein, die das Ziel nachhaltigen und harmonischen Wachstums anstreben. Die globale Wirtschaft befindet sich gerade auf dem Weg in eine gefährliche Phase, daher muss sich die chinesische Regierung auf neue Risiken, Schocks und Verletzungsgefahren einstellen. Tut sie das aber, dann sollte sie nach dem Prinzip handeln, dass politische Antworten auf kurzfristige Probleme langfristige Prioritäten nicht untergraben, sondern stützen.
Justin Yifu Lin ist Chefökonom und Vizepräsident für Entwicklungsökonomie bei der Weltbank. © Project Syndicate, 2012