Mikro- und Makroökonomie, BWL bis Wirtschaftsgeschichte, Theorie wie Praxis: Mit der Wirtschaft beschäftige ich mich seit dem ersten Tag des Studiums. Längst habe ich also begriffen, dass wir es mit einem wirren Gebilde von Systemen und Subsystemen zu tun haben, von denen jedes selber hochkomplex und dynamisch ist.
Wenn sich also Konjunkturforscher bei ihren BIP-Prognosen verhauen, dann haben sie mein volles Verständnis. Wer professionell mit der Wirtschaft zu tun hat, versteht auch, weshalb Finanzminister Ueli Maurer gern mal um ein paar Milliarden danebenliegt, wenn er die Steuereinnahmen des nächsten Jahres budgetiert. Oder weshalb einige Ökonomen momentan eine Inflationsspirale befürchten, während andere vor dem Gegenteil warnen, nämlich der Deflation – derweil eine dritte Gruppe denkt, dass die Lage schon unter Kontrolle bleiben wird.
Kurz: Selbst das grösste Wissen verschafft hier etwa so viel Durchblick wie ein Kerzlein im Winternebel.
«Viel Blödsinn»
Und doch reden alle eifrig mit, wenn es um die Wirtschaft geht: Gymnasiasten wissen genau, was im Kapitalismus schiefläuft, Studentinnen haben konkrete Ideen, wie man das Steuersystem umbauen müsste. Das ist auch gut so. Wirtschaft ist Macht, ökonomische Fragen sind wichtige Anker im demokratischen Gespräch. Und dass selbst die anerkanntesten Experten und Expertinnen ihre Einstellungen ständig neu verteidigen müssen, ist ganz nützlich: Es hilft mit, dass die Wirtschaftswissenschaften nicht in Dogmatik und Strenggläubigkeit versteinern.
«Drei Experten, drei Meinungen – und vermeintlich klare Fakten sind bald wieder überholt.»
Ähnliches erfahren nun die Forscher in Fächern, die zuvor recht unbehelligt arbeiten konnten: Virologie, Immunologie, Epidemiologie. Wegen der Covid-19-Krise interessieren sich Gymnasiasten, Studentinnen und Laien aller Art für ihre Thesen – und pikiert müssen Laborforscher mit Professorentitel erfahren, dass ihnen Nobodys in den Kommentarspalten von Online-Medien mitteilen, wo sie falsch liegen. «Das Problem ist, dass sich Meinungen und Wissenschaft immer mehr vermischen», monierte jüngst eine Virologin in einem Zeitungsinterview: «Es gibt viele Fehlinformationen, es wird auch viel Blödsinn erzählt.»
Labordaten versus Fallstudien
Wohl wahr. Doch je länger die Viruskrise dauert, desto öfter bekommt das Publikum auch mit, dass in den Naturwissenschaften oder in der evidenzbasierten Medizin offenbar ähnliche Zustände herrschen wie im Sektor Wirtschaft: drei Experten, drei Meinungen – und vermeintlich klare Fakten sind bald wieder überholt. So ahnen wir inzwischen, dass die Epidemiologen mit ihren scharfen Verlaufskurven etwa ähnlich unpräzise sind wie die Finanzanalysten mit ihren Börsenprognosen.
Das steht in einem interessanten Gegensatz zu einigen Medien und auch zu Politikern, welche die Einschätzung einzelner Corona-Fachexperten immer noch zitieren, als ob es sich um physikalische Gesetze handle. Und welche Labordaten ernster nehmen als grosse Fallstudien, die diesen Daten widersprechen.
Am Ende zeigt sich wieder einmal: Je komplexer ein Thema, desto mehr ist es eine Sache des Vertrauens, welche wissenschaftlichen Aussagen man als gültig erachtet, und eine Sache der Weltanschauung, welchen Thesen man folgt.
Auch da: gut so. Fatal wird es nur, wo es zum fundamentalen Glaubenszank verkommt.