Der Mann, dem die weltweite Occupy-Bewegung ihre Munition verdankt, scheut den Vergleich mit Karl Marx. Was man denn im Jahr 2014 von dem 1818 in Trier geborenen Sozialisten lernen könne? «Nicht so viel», sagt Thomas Piketty und verweist darauf, dass Marx für seine Theorien nur wenige Daten zur Verfügung standen. Die Vorhersagen Marx’ seien ebenfalls «sehr verschieden zu denen, die ich mache».

Der Franzose Piketty ist derzeit der Superstar der internationalen Ökonomenszene. Sein kürzlich erschienenes Buch wird in den USA und Grossbritannien derzeit wohl ähnlich kontrovers diskutiert wie Marx’ Kapital. Dessen erster Band erschien 1867 und fand zunächst wenig Beachtung. Im Gegensatz dazu liegt Pikettys «Capital in the 21st Century» in den Bestsellerlisten von Anfang an unangefochten auf Platz eins. Spätestens wenn das Werk im Frühjahr 2015 auf Deutsch veröffentlicht wird, dürfte Piketty hierzulande einem noch breiteren Publikum bekannt werden.

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Ein Prozent besitzt ein Fünftel

Dabei ist der Ausnahmeökonom Piketty in Fachkreisen bereits seit einiger Zeit eine grosse Nummer. Wie kein Zweiter vor ihm sammelte der 43-Jährige  unzählige Daten zur Entwicklung der Einkommen in den USA, aber auch vielen anderen Ländern rund um den Globus. Dabei arbeitete Piketty, der seit 2006 an der Paris School of Economics unterrichtet, oft mit Berkeley-Professor Emmanuel Saez zusammen.

Seine Langzeitstudien ergaben, dass die Bestverdiener in den USA ausgerechnet vor den beiden grossen Wirtschaftskrisen 1930 und 2008 einen beträchtlichen Anteil des Gesamteinkommens ansammeln konnten. Jeweils erwirtschaftete das oberste ein Prozent in dieser Zeit rund ein Fünftel des Einkommens. Das oberste Dezil verdiente fast die Hälfte. Für die Schweiz zeigt sich demnach über die vergangenen Jahrzehnte aber ein recht stabiles Bild.

Doch warum sank der Anteil der Superreichen in den USA ab Ende der 1930er Jahre so deutlich? Piketty macht dafür vor allem den zweiten Weltkrieg, höhere Inflationsraten, das Phänomen der Nationalisierung und die progressive Besteuerung der Einkommen verantwortlich. So führte US-Präsident Franklin D. Roosevelt nach der Wirtschaftskrise eine 90-prozentige Steuer für die höchsten Einkommen ein. Viele Länder folgten seinem Beispiel. «Der Wirtschaft hat das nicht geschadet, sie wuchs in den Jahren mit hohen Einkommenssteuersätzen vergleichsweise kräftig», sagt Piketty.

Piketty plädiert für eine stark progressive Einkommenssteuer

Zu Beginn der 1980er Jahre kehrte sich der Trend in der Besteuerung wieder um. Seitdem legte auch die Ungleichheit wieder zu. Die Gründe dafür seien aber nicht nur auf die veränderten Steuersysteme zurückzuführen, sagt Piketty. So hätten in dieser Zeit etwa die Gewerkschaften an Einfluss verloren, auch die Deregulierung am Finanzsektor dürfte mitverantwortlich sein.

Haben die Fähigkeiten der besten Manager seitdem zugenommen, was höhere Löhne rechtfertigen würde? Piketty findet dafür keine Belege. Er plädiert deshalb – zumindest für die USA – für eine progressive Einkommenssteuer, welche die Bestverdiener stark besteuert. Er glaubt nicht, dass die Produktivität der betroffenen Schichten deshalb sinke. «Für sehr hohe Einkommensempfänger gibt es da keine wissenschaftliche Evidenz.»

War es auch Piketty, der den französischen Präsident Francois Hollande dazu verleitete, hohe Einkommen mit 75 Prozent besteuern zu wollen? «Im Gegenteil», sagt Piketty, «ich habe sogar dagegen argumentiert.» Warum? «Es gibt in Frankreich viel weniger Menschen, die über eine Million verdienen als in den USA.»

Kapitalismus bringt automatisch Ungleichheiten hervor

Doch eine stark progressive Einkommenssteuer zur Senkung der Ungleichheit reicht Piketty nicht. Seiner Auffassung nach war die wirtschaftliche Ausgeglichenheit Mitte des 20. Jahrhunderts historisch wohl eher eine Ausnahme. In seinem Buch beschreibt er, dass die Einkommen aus Kapitalerträgen im 19. Jahrhundert über lange Zeit stärker stiegen als das wirtschaftliche Wachstum – und deshalb die ökonomische Ungleichheit zunahm.

«Es ist wahrscheinlich, dass diese Verhältnisse sich im 21. Jahrhundert wiederholen», sagt Piketty. Der Kapitalismus bringe automatisch «beliebige und unhaltbare Ungleichheiten» hervor, welche die «leistungsorientierten Werte auf denen unsere demokratischen Gesellschaften basieren, aushöhlen».

Damit widerspricht Piketty übrigens dem renommierten Ökonom Simon Kuznets, der herausgefunden hatte, dass die Ungleichheit innerhalb einer Volkswirtschaft während ihrer Entwicklung erst wächst und ab einem bestimmten Entwicklungsstand wieder abnimmt. Diese These findet bei Ökonomen bis heute breite Zustimmung. Für seine Errungenschaften hatte der US-Ökonom mit russisch-jüdischen Wurzeln 1971 den Nobelpreis erhalten. «Die Arbeiten von Kuznets sind heute aber von entscheidender Bedeutung», sagt Piketty.

Was also fordert der Franzose? Optimalerweise, so sagt Piketty, würde eine globale Vermögenssteuer das Problem der zunehmenden Ungleichheit in den Griff bekommen. Richtig ausgestaltet würde das Normalverdienern den Vermögensaufbau erleichtern und gleichzeitig die Konzentration des Reichstums beim obersten Prozent limitieren.

So sollten, fordert Piketty, Personen mit weniger als beispielsweise 300'000 Euro überhaupt keine Vermögenssteuer entrichten müssen. Über diesen Wert hinaus solle die Vermögenssteuer aber progressiv ansteigen. Vermögen mit einem Wert von 300'000 bis 1 Million Euro würden mit einem halben Prozent besteuert werden, über 1 Million mit einem Prozent. Denkbar seien auch andere Grenzen. «Eine Vermögenssteuer würde die soziale Mobilität erleichtern», sagt Piketty. Ihm zufolge gibt es heute lediglich zwei Möglichkeiten, Vermögen anzuhäufen: zu erben oder reich zu heiraten.

«Vollkommen verrücktes System»

Wichtig dabei: Die Steuer muss laut Piketty auf globaler Ebene eingeführt werden, um Steuerflucht zu vermeiden. Aber ist das nicht völlig utopisch? Nach Ansicht von Piketty nicht: Denn die USA und die Euro-Zone erwirtschafteten jeweils rund ein Viertel der globalen Wertschöpfung. Wenn diese Wirtschaftsmächte anfingen, würden andere wohl nachziehen. Hinzu kommt: In einigen Ländern rund um den Globus gibt es bereits Vermögenssteuern, die vereinheitlicht werden könnten.

Piketty verweist auch auf die anhaltenden Probleme in der Euro-Zone. «Es ist paradox, dass wir so viel Zeit mit der Schuldenkrise verschwenden – denn der private Reichtum stieg in den vergangenen Jahren weitaus stärker als die Schulden.»

Noch paradoxer sei laut Piketty, dass Griechenland sein Steuersystem umstelle, um die vermögenden Griechen zu mehr Steuerehrlichkeit zu bringen – das Land aber mit seinen Bemühungen in Europa relativ allein dastehe. Gleichzeitig erhielten Schweizer, deutsche und französische Banken Geld von vermögenden Griechen. «Das ist ein vollkommen verrücktes System», so Piketty, der bereits mit 22 Jahren als Assistenzprofessor an der Elitehochschule MIT in Boston arbeitete.

Piketty: Automatischer Informationsaustausch dringend notwendig

Entsprechend wenig hält der Franzose vom Schweizer Bankgeheimnis. Denn eine globale Vermögenssteuer funktioniere nur mit dem automatischen Austauch von Bankinformationen zwischen allen beteiligten Ländern. «Das ist absolut notwendig.»

Denn möglicherweise, so Piketty, wachsen die Einkommen aus Kapitalgewinnen auch in den kommenden Dekaden stärker als die Gesamtwirtschaft. Dies sei denn auch ein Widerspruch zu Marx, der langfristig von einer sinkenden Profitrate ausging. Also gar keine Gemeinsamkeit zwischen Piketty und Marx? Doch, sagt Piketty: Wie Marx sei auch er besorgt über die steigende Ungleichheit.