Irrtum 1: Gewinne steigen auf Kosten der Löhne

Seit Karl Marx streiten sich linke und rechte Ökonomen um die funktionale Verteilung des Volkseinkommens auf die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital. Die Diskussion verlor an Bedeutung, weil auch Arbeitnehmer zunehmend Kapitaleinkommen bezogen und die ungleiche Verteilung der Arbeitseinkommen in den Vordergrund rückte. Doch seit einigen Jahren sinkt in vielen Ländern der Anteil der Löhne am Volkseinkommen. Mit dem Eintritt Chinas, Indiens und des Ostblocks in die Weltwirtschaft vervierfachte sich die Zahl der Arbeitskräfte weltweit. Das führte in Ländern mit starker Massenfertigung zu Lohndruck. Der Klassenkampf zwischen Arbeit und Kapital erlebte eine Renaissance. 

Auch in der Schweiz beklagt die Linke eine sinkende Lohnquote. Doch die Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zeigen eine äusserst stabile Verteilung des Volkseinkommens. Seit 1990 schwankt die Lohnquote zwischen 58 Prozent (2007, 2008) und 61,5 Prozent (2002). Der erfolgreiche Strukturwandel in Richtung automatisierte Produktion und Dienstleistungen bewahrte die Schweiz vor dem Schicksal anderer Industrieländer. Das gute Berufsbildungssystem erhöhte die Produktivität und sorgte für steigende statt sinkende Löhne.
 

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Irrtum 2: Die Lohnschere geht immer weiter auf

Das Auseinanderdriften der Löhne prägt die Debatte um Ungleichheit vor allem in den USA. Doch die amerikanischen Erfahrungen lassen sich nicht auf die Schweiz übertragen. Die Reallöhne stiegen hierzulande in den letzten zwei Jahrzehnten im Durchschnitt um knapp 1 Prozent jährlich. Dabei haben alle Löhne teuerungsbereinigt zugenommen. Anders als in den USA oder in Deutschland sind die tiefen Löhne in der Schweiz sogar leicht stärker gestiegen als die mittleren, wie die Ökonomen Sandro Favre, Reto Föllmi und Josef Zweimüller in einer Studie für Avenir Suisse nachweisen. Eine Scherenbewegung wie in den USA gab es hierzulande nicht.

«Die Schweiz ist betreffend Einkommensverteilung geradezu ein Hort der Stabilität», sagt Reto Föllmi, Professor für Makroökonomie an der Universität St. Gallen: «Die Behauptung, die tiefen Einkommen würden an Boden verlieren, hat statistisch keine Grundlage.» Unter den entwickelten Ländern ist die Ungleichheit der Markteinkommen nur in Südkorea geringer als in der Schweiz. Nach Steuern und Umverteilung rutscht die Schweiz einige Ränge nach hinten, bleibt aber in der Spitzengruppe – vor Ländern wie Frankreich, Deutschland oder Italien. Der Anteil der Spitzenverdiener an den gesamten Einkommen blieb derweil seit 1933 – so weit reichen die Steuerdaten zurück – sehr stabil. Der Anteil der bestverdienenden 10 Prozent schwankte zwischen 29,65 Prozent (1993) und 33,63 Prozent (2008). Die Einkommensanteile des obersten Prozents oder der bestverdienenden 0,1 Prozent blieb über acht Jahrzehnte weitgehend konstant. 

In den letzten Jahren konnten die Spitzeneinkommen jedoch auch in der Schweiz stärker zulegen. Seit 1989 bauten die obersten 10 Prozent ihren Anteil am Kuchen um 7,7 Prozent aus. Die Top-1-Prozent (sie verdienten im Schnitt gut 700'000 Franken) erhöhten ihren Anteil um 14 Prozent, die Top-0,1-Prozent mit Durchschnittseinkommen von 2,7 Millionen um fast 29 Prozent. Das dürfte mit der zunehmenden Erfolgsbeteiligung von Top-Managern und der Zuwanderung von sehr reichen Leuten und Spitzenverdienern zu tun haben. Die Anteile der Top-Einkommen stiegen allerdings weit weniger als in den USA, in Grossbritannien oder im egalitären Schweden. Die Finanzkrise liess den Anteil der Top-Einkommen im 2009 wieder etwas sinken. Für 2010 bis 2012 kann Reto Föllmi nur Vermutungen anstellen. Er erwartet «aufgrund der gestiegenen Gesamtsteuereinnahmen eher sinkende Anteile der Top-Einkommen, aber keinen grossen Einbruch.»


Irrtum 3: Die Reichen werden immer reicher

Die Schweiz weist weltweit die höchste Millionärsdichte auf. 712 Personen haben mehr als 100 Millionen Dollar Vermögen, 5 gar über 1 Milliarde, gemäss Global Wealth Databook der Credit Suisse. Die Vermögensverteilung sei extrem ungleich, beklagen Gewerkschaften, Politiker und Journalisten seit Jahr und Tag. Als Beleg gilt der Gini-Koeffizient, ein statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen. Wenn alle gleich viel haben, beträgt sein Wert 0, wenn eine Person allein das gesamte Vermögen besitzt, beträgt er 1. Mit einem Gini von 0,8 landet die Schweiz gemäss CS auf Rang 199 von 216 Ländern. Die Vermögen sind demnach ähnlich ungleich verteilt wie in Indien.

Gemäss einer UNO-Studie landet die Schweiz bei der Vermögensverteilung gar auf Rang 147 von 150 Ländern. Nur Namibia und Simbabwe weisen eine einseitigere Verteilung der Vermögen auf. Eigentlich müsste jedem Politiker oder Journalisten ein Warnlicht aufgehen, wenn er mit solchen Zahlen hantiert. Die Schweiz als Drittweltland – das Bild taugt für den Klassenkampf, der Realität hält es nicht stand. Denn die internationalen Vergleiche berücksichtigen die wichtigsten Vermögenswerte der Schweizer nicht oder nur teilweise. So wird das Wohneigentum nur zum wesentlich tieferen Steuerwert erfasst. Gar nicht erfasst werden die Vermögen in der Pensionskasse und der 3. Säule. 2011 betrugen die PK-Vermögen über 625 Milliarden Franken, allein bei den Banken lagen zudem über 42 Milliarden freiwillige Ersparnisse der 3. Säule. Das macht 84'000 Franken zusätzliches Vermögen pro Kopf der Bevölkerung, das in den Verteilungsstudien schlicht unter den Tisch fällt. Das verfälscht das Bild massiv. Denn erstens stellt doch das Vorsorgesparen für die Schlechterverdienenden und den Mittelstand die wichtigste Sparform dar. Und zweitens existiert eine Obergrenze für Pensionskasseneinzahlungen, sodass der Anteil der Spitzenverdiener an diesen Vermögen ebenfalls begrenzt ist. 

Von den Kritikern der Schweizer Vermögensverteilung wird denn auch geflissentlich übersehen, dass die egalitären skandinavischen Länder in den Vergleichen ebenso schlecht abschneiden. Schweden, Dänemark oder Norwegen – sonst von Linken gerne zitierte Vorbilder – haben ähnlich schlechte Gini-Werte. Das ist eine logische Folge des gut ausgebauten Sozialstaates. Der Mittelstand muss gar nicht so viel Vermögen bilden, weil er durch das soziale Netz und die ausgebaute Altersvorsorge abgesichert ist. Die Ungleichheit habe sich verschärft, es finde eine «Feudalisierung» statt wie im Ancien Régime, der Zeit vor der französischen Revolution, beklagen Vorkämpfer der Ungleichheitsthese wie der Soziologie-Professor Ueli Mäder oder der frühere Leiter des Zürcher Statistikamtes, Hans Kissling. Davon kann keine Rede sein. Die Vermögensverteilung in der Schweiz ist seit 100 Jahren extrem stabil, wie die Langzeitstudien der Ökonomen Fabien Dell, Thomas Piketty und Emmanuel Saez zeigen.


Irrtum 4: Die Armen werden immer ärmer

Bis vor wenigen Jahren sorgten Schätzungen zur Armut in der Schweiz regelmässig für Schlagzeilen. Immer mehr Arme soll es in der reichen Schweiz geben. Mit den neu überarbeiteten Armutsstatistiken, deren Resultate 2012 veröffentlich wurden, beendete das Bundesamt für Statistik die Zahlenspielereien und brachte etwas Ruhe in die Diskussion. Die Quote der absoluten Armut, also der unter dem sozialen Existenzminimum lebenden Personen, sinkt – von 9,1 Prozent 2008 auf 7,9 Prozent 2010. Die Statistiker berechnen auch eine relative Armut. Die Armutsgefährdungsquote erfasst die Personen, die weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung haben (der Median teilt die Bevölkerung genau in der Mitte, eine Hälfte verdient weniger, die andere mehr als das Medianeinkommen). Als armutsgefährdet galten demnach 2008 15,6 Prozent der Bevölkerung, 2010 nur noch 14,2 Prozent. 

Die relative Armutsdefinition ermöglicht internationale Vergleiche, führt jedoch auch zu fragwürdigen Resultaten. In der Schweiz wären demnach gleich viele Menschen armutsgefährdet wie in Bulgarien. Das Sozialhilfe-Minimum für eine vierköpfige Familie liegt in der Schweiz bei etwa 4000 Franken, was Armutsvergleiche mit den meisten Ländern absurd erscheinen lässt. Die Definition von Armut relativ zum Durchschnittseinkommen sorgt auch dafür, dass Armut nie verschwindet. Zudem blendet sie die enorme Verbesserung des Lebensstandards der armen Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten komplett aus. Würden über Nacht alle Einkommen verdoppelt, wären morgen noch genau gleich viele armutsgefährdet wie heute. Der Zuzug des russischen Oligarchen Viktor Vekselberg oder des Credit-Suisse-Chefs Brady Dougan erhöhten gemäss dieser Definition die Zahl der Armutsgefährdeten in der Schweiz. Daniel Vasella dagegen reduziert sie mit seinem Wegzug in die USA.


Irrtum 5: Es gibt immer mehr «Working Poor»

Vor drei Wochen präsentierte der Schweizerische Gewerkschaftsbund eine Studie zu Tieflöhnen, um seine Mindestlohn-Initiative zu unterstützen. Rund 440000 Berufstätige arbeiteten für weniger als 4000 Franken brutto Vollzeit. Das sei «ein Skandal», davon könne man keine Familie ernähren. Das klingt dramatisch, zeigt jedoch ein verzerrtes Bild der Realität. So ist die Definition des Tieflohns eher willkürlich. 4000 Franken gilt in vielen europäischen Ländern selbst unter Berücksichtigung der Kaufkraft keineswegs als tiefer Lohn. Der grösste Teil der Tieflohnbezüger gehört zudem nicht zu den armen Haushalten.

Tieflöhner sind vor allem Berufseinsteiger, Arbeitnehmer ohne Berufsausbildung, Ausländer ohne Sprachkenntnisse, Kurzaufenthalter und Grenzgänger. Leute mit Berufsausbildung und Sprachkenntnissen steigen rasch auf oder wechseln in besser zahlende Branchen. Der Anteil der Tieflöhner geht zudem laufend zurück. Der Anteil der «Working Poor», die zwar voll arbeiten, aber trotzdem nicht davon leben können, entwickelte sich gemäss Bundesamt für Statistik (BfS) seit Mitte der 1990er-Jahre stabil, seit 2000 leicht rückläufig. Aufgrund der neuen Armutsstatistik des BfS, deren Daten nicht mehr mit früheren vergleichbar sind, ging die Armutsquote der Erwerbstätigen von 5,2 Prozent im Jahr 2008 auf 3,5 Prozent im 2010 zurück. Die Armutsgefährdungsquote sank gleichzeitig von 9,1 auf 7 Prozent.


Irrtum 6: Der Mittelstand blutet aus

«Der Mittelstand tritt seit 20 Jahren an Ort», klagte der Dachverband Angestellte Schweiz vor zwei Jahren aufgrund einer Auftragsstudie des Beratungsbüros Bass. Der Mittelstand schrumpfe gar, weil immer mehr in die Unterschicht abrutschten. Doch die politische PR überzeichnete die Resultate stark. Der Mittelstand bleibt in der Schweiz äusserst stabil. Das bestätigt auch die neue, umfassende Untersuchung der Denkfabrik Avenir Suisse. Es gehe «dem Schweizer Mittelstand gut, sogar sehr gut», stellen die Autoren fest. «Nicht nur ging es ihm materiell noch nie besser als im Herbst 2012, sondern es geht ihm auch besser als der Mittelschicht in den meisten anderen Ländern», lautet das Fazit. Dabei sind die qualitativen Fortschritte noch nicht berücksichtigt: Grössere Wohnungen, viel mehr Komfort, leistungsfähigere Elektrogeräte – Fortschritte, die sich die Grosseltern-Generation nicht träumen liess. Trotzdem dominiert in der Öffentlichkeit das Bild vom Niedergang. Fast alle Parteien versuchen sich deshalb als Retter des Mittelstands zu profilieren. Wie Avenir Suisse zeigt, plagt den Mittelstand vor allem die staatliche Umverteilungspolitik mit Steuern, einkommensabhängigen Krippentarifen und Subventionen.


Irrtum 7: Schweiz lebt auf Kosten des armen Südens

Die Feststellung gehört zum Standardrepertoire des Globalisierungs- und Kapitalismuskritikers: Der Reichtum der Schweiz beruht auf der Ausbeutung des armen Südens. Die Vorurteile über die Dritte Welt sitzen tief. Gegenteilige Fakten werden kaum zur Kenntnis genommen. So wurde der neue «Bericht zur menschlichen Entwicklung 2013» des Entwicklungsprogramms der Uno kaum beachtet. Dabei sind die Ergebnisse brisant. «Der Aufstieg des Südens ist beispiellos bezüglich Tempo und Ausmass», stellen die Autoren fest. In keinem Land, für das Daten vorliegen, war die Lebensqualität 2012 tiefer als im Jahr 2000. Das UN-Millenniumsziel, den Anteil der Armen an der Weltbevölkerung bis 2015 zu halbieren, wurde schon drei Jahre vor Ablauf der Frist erreicht. Es bilden sich neue Mittelschichten heraus, die soziale Ungleichheit geht rapide zurück, vor allem in den Bereichen Bildung und Gesundheit.


Irrtum 8: Es wird alles immer schlimmer

Krise, Ungleichheit, Armut - nimmt man die Klagen von Politik und Medien zum Nennwert, befindet sich die Schweiz im raschen Niedergang. Doch die Schweizer lassen sich von Alarmismus und Gejammer offenbar kaum beirren. In jeder Untersuchung der grundsätzlichen Zufriedenheit mit dem Leben erzielt die Schweiz seit je Spitzenränge. In der umfangreichsten Vergleichsstudie belegt sie Rang 4 unter 149 Ländern. Im Better-Life-Index der OECD rangiert die Schweiz bezüglich Lebenszufriedenheit an dritter Stelle von 36 Ländern, mit einem Durchschnittswert von 7,5 von maximal 10 Punkten. Dabei gibt es keine Bewertungsunterschiede zwischen Männern und Frauen.


Ungleichheit beschäftigt Politik und Medien offenbar viel mehr als die Menschen in der Schweiz.