Zwischen Bern und Lausanne drosselt der Schnellzug sein Tempo. Die Passagiere schauen aus dem Fenster, können aber keinen Grund für das Abbremsen ausmachen. Die Wagen schaukeln für einen Moment gemächlich weiter, um dann wieder volle Fahrt aufzunehmen. «Eine Langsamfahrstelle», erklärt SBB-Sprecherin Lena Meyer.

Der Ausdruck in bestem Beamtendeutsch bezeichnet Streckenabschnitte, die dringend saniert werden müssten. Wegen Mängeln am Trassee verordneten die Bundesbahnen allein 2010 Tempobeschränkungen an rund 60 Stellen. «Die Zahl steigt seit Jahren, und sie wird künftig noch weiter zunehmen», so Meyer. Der Grund: Den SBB fehlt es an Geld, um ihre Anlagen in Schuss zu halten.

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Für das Lausanner Institut für Managemententwicklung IMD sind die zunehmenden Mängel beim Schienennetz keine Bagatelle, sondern symptomatisch für die überlastete und gar vernachlässigte Verkehrsinfrastruktur der Schweiz. Die Experten halten das für fatal. Sie haben das Land darum in ihrer neusten Rangliste der internationalen Wettbewerbsfähigkeit gar von Rang vier auf fünf zurückgestuft. «Schon heute gibt es beim Transport Einschränkungen, die ein weiteres Wachstum behindern», sagt Sprecherin Anne-France Borgeaud Pierazzi. Die Schweiz riskiert im internationalen Kräftemessen der attraktivsten Standorte für Firmen noch weiter abzurutschen.

Beim IMD warnt man deshalb davor, die bisherige Infrastrukturpolitik fortzusetzen und zur Tagesordnung überzugehen. Es brauche Zusatzanstrengungen, so die Lausanner Experten. «Das Problem ist, dass der Erhalt und die Erweiterung der Infrastrukturen mit dem Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum der vergangenen Jahre nicht Schritt zu halten vermochten», erklärt Pierazzi.

Gesamte technischen Infrastruktur auf 850 Milliarden Franken geschätzt

Zu ähnlichen Schlüssen kommen die Verfasser der Nationalfondsstudie «Was kostet das Bauwerk Schweiz in Zukunft und wer bezahlt dafür?». Sie bilanzieren den Wiederbeschaffungswert der gesamten technischen Infrastruktur – also der Verkehrs-, Strom-, Wasser- und Kommunikationsnetze, der Abwasser- und Abfallentsorgung sowie der Schutzbauten – auf rund 850 Milliarden Franken. Die Zahl ist konservativ gerechnet. Tatsächlich dürfte es heute über 1000 Milliarden Franken kosten, müsste die Infrastruktur von Grund auf neu gebaut werden.

Gemäss den Forschern des Nationalfonds muss die Schweiz in den nächsten 20 Jahren rund 600 Milliarden in die technische Infrastruktur investieren, wenn sie ihr aktuelles Niveau halten will. Zwei Drittel sind allein für den Erhalt zu budgetieren, ein Drittel für die Erweiterung. Jahr für Jahr braucht es also rund 30 Milliarden Franken. Tatsächlich eingesetzt werden aber gegenwärtig 15 bis 20 Milliarden. Die Schweiz lebt von der Substanz. «Beim Unterhalt ist in vielen Bereichen nie richtig gerechnet worden. Nun steuern wir auf ein grosses Finanzierungsproblem zu», bestätigt Dominique Reber, Bereichsleiter Infrastrukturen des Wirtschaftsverbands Economiesuisse.

Verkehr als grösste Herausforderung

Die grösste Herausforderung stellt sich im Verkehr. Laut einem Bericht des Fachverbands der Infrastrukturbauer (Infra) müssten rund 1,8 bis 2,6 Prozent des Wiederbeschaffungswerts in den Unterhalt und den Ausbau der Strasse investiert werden. 1700 Kilometer müssten dringendst saniert werden. Vor allem die Kantone liegen aber weit unter diesem Niveau. «17 von 26 Kantonen investieren viel zu wenig in die Werterhaltung ihrer Strassen», erklärt Infra-Geschäftsführer Benedikt Koch. Überdurchschnittlich viele schlechte Strassen gibt es in der Westschweiz und im Tessin. Waadt und Jura etwa werfen gerade mal 9 beziehungsweise 27 Prozent des Betrages für die Substanzerhaltung auf, der eigentlich notwendig wäre, um die Strassen im jetzigen Zustand zu halten.

Noch mehr gespart wird bei den Gemeindestrassen. Diese machen fast drei Viertel des gesamten Strassennetzes aus. «Obwohl erfahrene Strassenfachleute für deren Werterhaltung jährlich 2 Prozent des jährlichen Wiederbeschaffungswertes empfehlen, räumen über 90 Prozent der Gemeinden für den Unterhalt ihrer Strassen kaum mehr als 1 Prozent des Neuwertes ein», rechnet Koch vor. Sie betreiben mit dieser Vernachlässigung eine gefährliche Sparpolitik. Wenn nämlich mit der Sanierung einer Strasse zu lange gewartet wird, ist der günstigste Zeitpunkt verpasst, und es wird umso teurer.

Der mangelhafte Unterhalt ist mitverantwortlich, dass das Verkehrsnetz immer häufiger an seine Belastungs- und Kapazitätsgrenzen stösst. Die neuralgischen Strecken liegen vor allem in den Agglomerationen, wo sich Auto an Auto drängt. In den täglichen Staus drohen sich die wirtschaftlichen Vorteile reibungslos funktionierender Verkehrssysteme in Luft aufzulösen. Der effiziente und günstige Transport kommt zum Erliegen, und die Produktivität bricht ein. «Mit der guten Verkehrsinfrastruktur setzt das Land einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil aufs Spiel», betont Koch.

«Zuerst verliert die Schweiz die Standortqualität, und damit schwindet die Attraktivität für internatio-nale Firmen», warnt Reber, der die Rolle der Infrastruktur eingehend analysiert hat. Um die drohenden Finanzierungslücken abzuwenden, fordert Reber einen Paradigmawechsel. «Die heutigen Preismodelle schaffen falsche Anreize und fördern die Übernutzung. Gefragt ist künftig zum Beispiel ein Mobility Pricing für alle Verkehrsträger, bei dem die Nutzer effektiv jene Leistungen bezahlen, die sie beziehen», sagt der Experte.

Netze am Limit: Tausende Kilometer müssen erneuert werden

Trinkwasser
Das Schweizer Netz ist 80000 Kilometer lang. Der Wiederbeschaffungswert der Trinkwasseranlagen liegt bei 111 Milliarden Franken. Jährlich müssten die 3000 Versorger rund 2,3 Milliarden Franken investieren, allein um das Netz zu erhalten. 460 meist grössere Wasserwerke sind dem Branchenverband SVGW angeschlossen. Sie beteuern, dass sie ihre Leitungsnetze und Anlagen in gutem Zustand erhalten. Dafür investieren sie jährlich rund 800 Millionen Franken. Das Geld generieren sie über kostendeckende Gebühren. Bei den kleineren Wasserversorgungen in ländlichen Gebieten hingegen gibt es grosse Versäumnisse. Sie erneuerten jahrelang gar nichts. Dafür sind die Lokalwerke stolz auf ihre tiefen Wasserpreise. Diese decken aber nur die Betriebskosten. Die zumeist historisch gewachsenen Institutionen scheuen sich, ihre längst überholten Kostenmodelle anzupassen. Teure Sanierungsprojekte müssen aus den Gemeindekassen finanziert werden, die schon sonst am Limit sind. Hier tickt eine Zeitbombe.

Strom
Das gesamte Netz hat eine Länge von 224500 Kilometern und einen Wiederbeschaffungswert von 170 Milliarden Franken. Der jährliche Mittelbedarf beträgt allein für die Erhaltung des Stromnetzes rund 3,4 Milliarden. Für Erweiterungen wären bis 2030 insgesamt 33 Milliarden Franken nötig. Dieser gewaltige Mittelbedarf hat mehrere Gründe. Mehr als zwei Drittel des Höchstspannungsnetzes sind über 40 Jahre alt und damit am Ende der Lebensdauer. Zudem muss das Netz erweitert werden, damit nach dem Atomausstieg der Schweiz genügend Strom importiert werden kann. Die Betreiberin Swissgrid rechnet mit bis zu 6Milliarden Franken für Erhalt und Ausbau des Netzes. Doch sowohl beim Unterhalt als auch beim Ausbau des Netzes kommt sie kaum voran, weil Einsprachen und komplizierte Bewilligungsverfahren die Projekte blockieren. Der Atomausstieg macht zudem einen Ausbau der regionalen Netze nötig. Nur so lassen sich neue Wind- und Solaranlagen überhaupt bauen. Das Netz ist am Anschlag.

Kommunikation
In der Schweiz gibt es zwei Breitbandnetze im Festnetzbereich (Swisscom und Kabelnetze) sowie mehrere Mobilfunknetze. Ihr Wert beträgt 60 Milliarden Franken. Der Finanzbedarf für die Erhaltung des Netzes wird auf 3 Milliarden beziffert, der Erweiterungsbedarf bis 2030 auf 40 Milliarden. Zwar kommt es im Handynetz öfters zu Engpässen. Insgesamt ist der Zustand der Kommunikationsinfrastruktur aber gut. Dafür sorgt der Wettbewerb unter den Betreibern. Bei den Investitionen pro Kopf liegen sie im weltweiten Vergleich auf dem vierten Rang. Allerdings hat die Qualität der Netze auch zur Folge, dass sie für immer mehr mobile und datenintensive Anwendungen genutzt werden. Allein das Datenaufkommen auf den Mobilfunknetzen verdoppelt bis vervierfacht sich jedes Jahr. Das bringt die Netze immer wieder ans Limit und führt dazu, dass sie immer weiter ausgebaut werden müssen. Das kostet Milliarden und dauert mitunter Jahre. Noch können die Anbieter aber mithalten.

Schiene
Das Schienennetz misst 5100 Kilometer. Die Infrastruktur hat einen Wiederbeschaffungswert von 100 Milliarden Franken, der jährliche Erhaltungsbedarf beträgt 2,4 Milliarden, der Erweiterungsbedarf liegt bis 2030 bei 44 Milliarden. Beim Substanzerhalt hat sich bei den Bahnen in den vergangenen 15 Jahren ein Nachholbedarf von 1,35 Milliarden angehäuft. Die Folge sind Langsamfahrstrecken. Verantwortlich dafür ist vor allem die Verkehrssteigerung der letzten Jahre. Die intensivere Belastung der Anlagen verkürzt deren Lebensdauer. Zudem wird der Spielraum für Unterhaltsbauten auf den rege genutzten Schienen immer kleiner. Das grösste Problem liegt bei der Finanzierung. Mit der Einrichtung eines Bahninfrastrukturfonds soll sie beim Schienenverkehr sichergestellt werden. Die im März vom Bundesrat verabschiedete Vorlage muss noch vors Parlament. Ein Teil der Mittel soll über Preiserhöhungen generiert werden. Das muss Konzernchef Andreas Meyer aber den Bahnbenutzern zuerst schmackhaft machen.

Strasse
Die Gesamtlänge beträgt 71 384 Kilometer, der Wert 211 Milliarden Franken. Der jährliche Bedarf für die Erhaltung der Strassen liegt bei 5 Milliarden, der Erweiterungsbedarf bis 2030 kommt allein für die Nationalstrassen auf 45 Milliarden zu stehen. Zumindest finanziell präsentiert sich die Situation bei den Nationalstrassen einigermassen gut. Über Mineralölsteuer, Autobahnvignette, LSVA, Automobilsteuer und anderes mehr werden beträchtliche Mittel generiert, die teilweise für den Unterhalt in die Spezialfinanzierung Strassenverkehr (SFSV) fliessen. Weitere Mittel gibt es über den Infrastrukturfonds (IF). Eine veritable Zeitbombe tickt hingegen bei Kantons- und Gemeindestrassen. Sie werden mit Steuergeldern aus der allgemeinen Kasse finanziert. Die Gemeinden etwa setzen jährlich lediglich einige Hundert Millionen für den Unterhalt ein. Notwendig wären aber 2 Milliarden. In gewissen Kantonen und Gemeinden hat sich beim Substanzerhalt bereits ein enormer Nachholbedarf aufgestaut.