Alle scheinen im Moment über die immer stärkere wirtschaftliche Ungleichheit der heutigen Zeit zu sprechen – und sie zu verdammen. Genährt durch beunruhigend Statistiken wie die jüngste Enthüllung von Oxfam, die weltweit reichsten 62 Menschen besässen so viel Vermögen wie die ärmsten 3,6 Milliarden, steigt die öffentliche Unterstützung für linke Politiker wie den Amerikaner Bernie Sanders oder den Briten Jeremy Corbyn. Aber die heutigen ideologisch getriebenen Debatten neigen dazu, ein immer komplexeres Thema – das von Prozessen beeinflusst wird, die wir nicht vollständig verstehen – zu stark zu vereinfachen.

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Viele Teilnehmer an der momentanen Debatte über Ungleichheit zitieren das Buch des französischen Ökonomen Thomas Piketty von 2014 mit dem Titel «Das Kapital im 21. Jahrhundert», in dem er drei Kernthesen aufstellt: Erstens sei das Verhältnis zwischen Reichtum und Einkommen in den letzten dreissig Jahren immer mehr gestiegen. Zweitens: Ist die Gesamtrendite des Reichtums höher als die Wachstumsrate des Einkommens, müsse sich der Reichtum notwendigerweise immer stärker konzentrieren. Drittens müsse diese steigende Ungleichheit über beschlagnahmende Steuern umgekehrt werden, bevor sie die Gesellschaft zerstört.

Darum irrt Thomas Piketty

Auf den ersten Blick mögen diese Punkte überzeugend klingen. Aber die erste Aussage ist kaum mehr als eine Binsenweisheit, und die zweite wird durch Pikettys eigene Daten widerlegt, was die dritte irrelevant macht.

Piketty beobachtet ein steigendes Verhältnis von Reichtum zu Einkommen in den Jahren 1970 bis 2010 – einer Periode, innerhalb derer sich die geldpolitische Umgebung deutlich verändert hat. Von 1970 bis 1980 stieg in den westlichen Volkswirtschaften die Inflation, begleitet von steigenden Zinsen. Während dieser Zeit vergrösserte sich in diesen Ländern das Verhältnis zwischen Reichtum und Einkommens nur moderat, wenn überhaupt.

Ab 1980 dann gingen die nominalen Zinssätze dramatisch zurück. Wie zu erwarten war, stieg in dieser Zeit der Wert des Reichtums viel schneller als derjenige des Einkommens, da die Anlagegüter, aus denen Reichtum besteht, letztlich anhand des jeweiligen Nettowerts ihrer für die Zukunft erwarteten Kapitalerträge bewertet werden, abgezinst um den aktuellen Zinssatz.

Einfluss von niedrigen Zinsen

Das einfachste Beispiel dafür ist eine Staatsanleihe. Aber auch der Wert eines Hauses wird so bestimmt: anhand der erwarteten Miete abzüglich der momentanen Nominalzinsen. Auch Aktien werden bei niedrigen Zinsen mit höheren Kurs-/Gewinnverhältnissen bewertet.

Zur Berechnung des Gesamtreichtums berücksichtigt Piketty sowohl das Einkommen der Vermögenswerte als auch ihre Wertsteigerung. Unterdessen wurden die Einkommen bei sinkenden Zinssätzen über eine Generation lang kapitalisiert. So gesehen ergibt sein Ergebnis, dass der Reichtum stärker stieg als die Einkommen, natürlich Sinn – da es direkt aus sinkenden Zinsen folgt.

Welchen Einfluss haben niedrigere Zinsen auf die gemessene Ungleichheit? Wenn ich ein Haus besitze und mein Nachbar zwei, und sich der Wert dieser Häuser durch sinkende Zinsen verdoppelt, verdoppelt sich auch die monetäre Ungleichheit zwischen uns. Dadurch wird dann eine Vielzahl statistischer Indikatoren beeinflusst und viel gut gemeinte Betroffenheit ausgelöst. Die Wirklichkeit aber ist, dass ich immer noch ein Haus besitze und mein Nachbar zwei. Sogar die relative Erschwinglichkeit von Häusern verändert sich kaum, da niedrigere Zinsen grössere Hypotheken ermöglichen.

Realität widerspricht Pikettys Theorie

Betrachten wir Pikettys eigene Daten, um für dieses Phänomen weiter zu untersuchen. In Europa wählt Piketty Italien als das Land, in dem das Verhältnis des Reichtums zum Einkommen am stärksten gestiegen ist, nämlich von 230 Prozent im Jahr 1970 auf etwa 680 Prozent im Jahr 2010. Deutschland scheint mit 210 Prozent (1970) und 400 Prozent (2010) ein „tugendhafteres“ Land zu sein. Was Piketty leider nicht betont, ist, dass die Zinsen in diesem Zeitraum in Italien (von 20 Prozent auf 4 Prozent) viel stärker gefallen sind als in Deutschland (von 10 Prozent auf 2 Prozent).

Der Einfluss dieser Dynamik auf die Ungleichheit in der wirklichen Welt ist genau entgegengesetzt zu dem, was Piketty erwartet. In der Tat sind die Italiener durchschnittlich nicht nur viel reicher als die Deutschen, sondern Italiens allgemeine Wohlstandsverteilung ist viel ausgeglichener.

Eine Studie der Europäischen Zentralbank über die Haushaltsfinanzen in der Eurozone von 2013 zeigt, dass im Jahr 2010 – im letzten Jahr von Pikettys Forschungen – der durchschnittliche italienische Haushalt um 41 Prozent reicher war als der durchschnittliche deutsche Haushalt. Darüber hinaus beträgt die Differenz zwischen dem mittleren und dem Median-Haushaltsreichtum in Italien nur 59 Prozent und in Deutschland kolossale 282 Prozent.

Vielzahl von Einflussfaktoren auf das Einkommen

Dieser Unterschied kann grösstenteils damit erklärt werden, dass in Italien 59 Prozent der Haushalte Hausbesitzer sind und in Deutschland nur 26 Prozent. Ein grösserer Anteil der Italiener hat also von einem grösseren Rückgang der Zinsen profitiert.

Dieses Beispiel verdeutlicht, wie die Wohlstandsentwicklung durch Investitionsentscheidungen der Haushalte beeinflusst wird. Die Ermittlung von Wohlstand oder Reichtum wird dadurch weiter verkompliziert, dass, wie Martin Feldstein kürzlich gezeigt hat, ein grosser Teil des Reichtums aus dem Anrecht auf nicht berücksichtigte zukünftige Sozialleistungen besteht.

Und dann gibt es eine Vielzahl von Einflussfaktoren auf das Einkommen wie etwa die Nachfrage nach bestimmten Fähigkeiten. Für diejenigen, deren Fähigkeiten nicht gefragt sind, hat die Verfügbarkeit von Fortbildungs- oder Trainingsmöglichkeiten einen erheblichen Einfluss auf ihre Einkommensaussichten. Gleichzeitig benötigen Personen oberhalb eines bestimmten Einkommensniveaus, die zur Übernahme grösserer Verantwortung am Arbeitsplatz bewegt werden sollen, wahrscheinlich deutliche finanzielle Anreize, um den damit verbundenen Verlust an Lebensqualität zu kompensieren.

Ungleichheit ein hoch komplexes Phänomen

Also ist die wirtschaftliche Ungleichheit ein hoch komplexes Phänomen, das durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst wird – von denen wir viele nicht vollständig verstehen und schon gar nicht unter Kontrolle haben. Angesichts dessen sollten wir uns vor der Art radikaler Massnahmen, die manche Politiker heute vertreten, in Acht nehmen. Ihre Auswirkungen sind unvorhersehbar und könnten eher schaden als nützen.

Vielleicht ist überhaupt kein neuer Ansatz nötig. Immerhin nehmen die Lebensstandards weltweit immer mehr zu und konvergieren immer stärker. Darauf sollten sich von neuen Populisten bis hin zu hartgesottenen Kapitalisten eigentlich alle einigen können.

* Antonio Foglia, Vorstandsmitglied der Banca del Ceresio, ist Mitglied des Rats der Globalen Partner beim Institut für Neues Ökonomisches Denken.

Copyright: Project Syndicate, 2016.
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