Wie, ob und wann Grossbritannien die Europäische Union verlassen wird, ist derzeit unklarer denn je. Doch dazu, was der Brexit für die Wirtschaft bedeuten würde, gibt es schon heute Schätzungen und Prognosen von allen möglichen Seiten. Die Welthandelsorganisation (WTO) hat beispielsweise ermittelt, dass die Wirtschaftsleistung Grossbritanniens durch den Austritt insgesamt um 3,9 Prozent schrumpfen könnte, in Irland betrüge das Minus mit 3,7 Prozent kaum weniger, aber auch die Niederlande und Belgien müssten mit Verlusten in Höhe von mehr als einem Prozent der Wirtschaftskraft rechnen. In Deutschland wären es 0,7 Prozent.
Das Problem mit solchen Prognosen ist, dass sie auf allerlei Annahmen beruhen und keiner wirklich sagen kann, wie die Folgen ausfallen werden. Denn letztlich hängt alles davon ab, wie der Brexit über die Bühne geht, mit welchen vertraglichen Regelungen also. Und da ist eben nichts klar. Allenfalls die Aussage, dass Grossbritannien und Irland am meisten unter dem Austritt leiden werden, dürfte Konsens sein. Alles andere ist ins Blaue hinein geraten.
Schrumpfende Investitionen
Doch es gibt einige Folgen des Brexits, die heute schon zu erkennen und zu messen sind – auch wenn er noch gar nicht stattgefunden hat. Am deutlichsten ist das bei den Investitionen in Grossbritannien zu sehen. Schon kurz vor dem Referendum brach der Zuwachs hier ab. Seit die Briten für den EU-Austritt gestimmt haben, haben sich die Investitionen auch nicht wirklich erholt, sondern finden seither auf einer weit niedrigeren Basis statt als zuvor. Und jüngst sind die Zahlen sogar noch weiter abgestürzt. Zuletzt gingen die Investitionen auf der Insel sogar gegenüber dem Wert des Vorjahreszeitraums zurück.
Der Grund ist einleuchtend: Solange ein Unternehmer nicht weiss, wie die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Zukunft aussehen werden, wird er natürlich keine grösseren Investitionen in sein Geschäft mehr tätigen. Und ausländische Firmen, die in Grossbritannien eine Niederlassung haben, von der aus sie das Geschäft in der EU betreuen, werden vielleicht sogar Geschäft abziehen – die Banken sind das beste Beispiel dafür.
In diesen Wochen verschieben sie Milliarden von der Insel, hauptsächlich nach Frankfurt. Die Finanzplatzinitiative Frankfurt Main Finance beziffert die Summe auf 750 bis 800 Milliarden Euro, die verlagert werden. Die Unternehmensberatung EY kam bei einer Analyse zuletzt auf ähnliche Zahlen.
Der London Stock Exchange fällt ab
Aber auch am Aktienmarkt lassen sich die Folgen des Brexits bereits erkennen. Britische Aktien blieben seit dem Referendum am 23. Juni 2016 in ihrer Wertentwicklung deutlich hinter denen anderer Märkte zurück. Auf Dollar-Basis gaben die Kurse seither im Schnitt um über fünf Prozent nach, während amerikanische Aktien im selben Zeitraum um über 20 Prozent zulegten.
Auch die Börsen in den Schwellenländern, in Japan und im Rest Europas brachten Anlegern ein mehr oder weniger starkes Plus. Teilweise liegt das schlechte Abschneiden am Wertverlust des Pfundes gegenüber dem Dollar. Doch selbst wenn man diesen Effekt herausrechnet, hinken britische Aktien der Gesamtentwicklung weit hinterher.
Die UBS zeigt die Folgen auf
Umso mehr gilt dies für jene britischen Firmen, die hauptsächlich im Inland aktiv sind. Denn die Wertentwicklung der Firmen, die mindestens zwei Drittel ihrer Umsätze im Ausland machen, lag seit der Abstimmung zur EU-Mitgliedschaft rund 40 Prozentpunkte höher als die Performance der Firmen mit mindestens zwei Drittel der Umsätze im Inland, wie eine Analyse der Grossbank UBS zeigt. Offenbar fürchten die Finanzmärkte vor allem einen Einbruch beim inländischen Konsum, wenn Grossbritannien endgültig die bisherigen Handelsverbindungen zur EU gekappt hat.
Ob es dazu wirklich kommt, werden die kommenden Wochen zeigen. Die bisherigen Entwicklungen legen aber auch nahe, was passieren könnte, wenn der Austritt komplett abgesagt würde: Es könnte zu einem Investitionsboom und zu einer Aktienrallye auf der Insel kommen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist derzeit aber wohl eher gering.
Dieser Artikel erschien zuerst bei der «Welt» unter dem Titel: «Diese Brexit-Folgen sind jetzt schon messbar».