Populisten wie Donald Trump dominieren die Debatte. Ist der Freihandel am Ende?
Thomas Cottier: Keinesfalls. Allerdings weckt der Begriff falsche Assoziationen: dass der Markt tun könne, was er wolle. Diese Idee ist obsolet. Freihandel bedeutet heute eher Re-Regulierung als De-Regulierung. Freier Handel braucht Regeln.
Wer hat stärker vom Freihandel profitiert: Die Industrie- oder die Schwellenländer?
In den vergangenen Jahrzehnten wurde sehr darauf geachtet, dass Schwellen- und Entwicklungsländer von offenen Märkten profitieren können. Ihr Anteil am Welthandel ist gewachsen. Im Westen hat dies teilweise zu Deindustrialisierung geführt. Den Folgeproblemen hat man im Rückblick zu wenig Beachtung geschenkt. Die Zeit lässt sich aber nicht zurückdrehen. Die Abschaffung des Freihandels würde zu spürbaren Wohlstandsverlusten führen.
Die Arbeitslosen im Rostgürtel der USA werden Sie damit nicht überzeugen.
Die verlorenen Stellen im Rustbelt werden nicht zurückkehren. Die Industrie wandert nicht zuletzt deshalb ab, weil sie vor Ort nicht die nötigen Fachkräfte findet. Führt man Schutzzölle und Kontingente ein, schafft das keine neuen Jobs. Nötig ist eine Vorwärtsstrategie: mehr Geld für die Ausbildung, ein duales Bildungssystem.
Die USA ziehen sich aus dem Multilateralismus zurück. Mit welchen Folgen?
Die USA haben den Vertrag über die asiatische Freihandelszone TPP aufgegeben. Auch könnte Trump die nordamerikanische Freihandelszone Nafta sprengen. Er stellt Anforderungen, welche die Partnerländer nicht erfüllen können. Gewinner wird China sein, das nun in Asien eine Freihandelszone nach eigenen Vorstellungen forciert. Über kurz oder lang werden die Westmächte dadurch unter Zugzwang geraten – und sich möglicherweise gezwungen sehen, doch noch ein transatlantisches Abkommen zu realisieren.
Gibt es einen Systemwettbewerb zwischen dem autoritären China und dem Westen?
Einen echten Systemwettbewerb wird es erst geben, wenn China seinen Binnenmarkt in Schwung bringt. Das Land ist heute wirtschaftlich und technologisch noch immer stark vom Westen abhängig. Nur wenn Nordamerika und Europa seine Waren abnehmen, kann die Volksrepublik wachsen. Tendenziell stimmt es aber: Multilateralismus und Globalisierung verlieren an Vertrauen. In der Folge festigen sich die Handelsblöcke in Asien, Europa und Nordamerika. Diese Blöcke werden wieder mehr auf sich selber gestellt sein.
Ist eine solche Blockbildung gefährlich?
Historisch gesehen: Ja. Die wirtschaftliche Vernetzung verbindet auch politisch. Je stärker abgeschottet die Blöcke sind, desto grösser wird das Risiko von Spannungen und militärischen Konflikten. Das zeigen die Erfahrungen der 1930er Jahre. Hoffen wir, dass die Welt nicht erneut in ein ähnliches Szenario zurückrutscht. Wir brauchen den Aussenhandel. Der Wohlstand der Schweiz verdankt sich der Öffnung der Weltmärkte in der Nachkriegszeit und dem grossen europäischen Binnenmarkt.
In Buenos Aires tagten die WTO-Minister. Ist die Organisation noch relevant?
Ihre Bedeutung wird in der Öffentlichkeit stark unterschätzt. Das Bild ist geprägt von der Doha-Runde, die nicht vom Fleck kommt. Leicht geht vergessen, dass alle aussenwirtschaftlichen Regeln auf den Grundsätzen der WTO basieren. In den letzten Jahren konnten zudem eine Reihe wichtiger Abkommen geschlossen werden, die auch der Schweiz wesentliche Handelserleichterungen bringen.
Der Bundesrat legt das Augenmerk primär auf die Freihandelsabkommen – und weniger auf den Multilateralismus der WTO.
Politisch mag das für ihn interessant sein. In Wahrheit ist aber fraglich, wie viel diese Abkommen bringen. Das Freihandelsabkommen mit China nützt in erster Linie den Chinesen.
Wie bitte?
China erhält damit ein Standbein in Europa. Die Unternehmen können sich in der Schweiz niederlassen und von hier aus im europäischen Markt operieren. Ihnen kommt entgegen, dass es, anders als in China selbst, keinerlei Beschränkungen gibt, Schweizer Firmen zu erwerben. Auf der anderen Seite haben unsere Unternehmen immer noch grosse Mühe mit der chinesischen Bürokratie. Viele verzichten darauf, ihre Waren zollvergünstigt nach China auszuführen.
Sie malen schwarz.
Mein Eindruck ist, dass man den Wert der Freihandelsabkommen mit Übersee in der Schweiz generell überschätzt. Sicher profitiert vor allem die Pharmaindustrie erheblich von den Verträgen. Für kleine Unternehmen sind die bürokratischen Hürden jedoch häufig zu hoch – die administrativen Kosten sind grösser als die Zollvorteile. Die besagten Abkommen leisten auch keinen grossen Beitrag zum Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse, also zur Harmonisierung von Standards.
Ist das Netz an Freihandelsabkommen nicht ein Wettbewerbsvorteil?
Das grosse Exportvolumen rührt daher, dass die Schweiz viele multinationale Konzerne beheimatet. Firmen wie Nestlé verfügen über eine lange Tradition in fernen Märkten. Entscheidend für die Erfolge ist die unternehmerische Initiative, nicht die Abkommen. Es ist falsch zu glauben, die Schweiz sei punkto Freihandelsabkommen gegenüber der EU im Vorsprung.
Die EU hat kein Abkommen mit China.
Aber sie hat andere Abkommen mit deutlich mehr Substanz als jene der Schweiz. Der Vertrag der EU mit Kanada zählt 1600 Seiten. Er regelt etwa den Schutz der geografischen Herkunftsbezeichnungen für EU-Spezialitäten. Im Schweizer Abkommen fehlen solche Elemente. Es zählt gerade einmal 26 Seiten und beschränkt sich auf den Zollabbau. Es ist vermessen, wenn die Schweiz ihre eigenen Abkommen stets als Rettungsanker darstellt – und vergisst, dass die EU auch eine weltumspannende Handelspolitik betreibt. Sie hat 35 Abkommen und damit mehr als die Schweiz.
Ist die EU eine attraktivere Handelspartnerin als die Schweiz?
Die Schweiz schützt ihre Landwirtschaft. Das ist für viele Länder tatsächlich nicht attraktiv. Es lohnt sich für sie mehr, mit der EU und ihren über 500 Millionen Konsumenten zu verhandeln als mit der Schweiz.
Trotzdem verhandelt die Schweiz derzeit mit den Mercosur-Staaten.
Ja. Aber Brasilien, Argentinien und Chile haben an einem Abkommen kein echtes Interesse, solange die Schweiz nicht bereit ist, die Agrarmärkte zu öffnen. Wenn die Schweiz die Märkte nicht öffnet: Führt unsere Politik in eine Sackgasse? So drastisch ist es nicht. Aber die Welt ist im Umbruch. Grössere Freihandelszonen wie die EU gewinnen an Bedeutung. Als Nichtmitglied wird die Schweiz aussen vor bleiben. Das birgt die Gefahr, dass Firmen Arbeitsplätze ins Ausland verlagern, weil sie da bessere Rahmenbedingungen finden. In der Schweiz realisieren viele Leute nicht, was auf dem Spiel steht.
Was fordern Sie konkret?
Die Schweiz sollte sich wieder stärker für die multilaterale Ordnung engagieren und versuchen, dort wieder die Führungsrolle zu übernehmen, die sie einmal hatte. Es ist ein Fehler, dass der Bund seine beschränkten Ressourcen ganz auf den Abschluss bilateraler Freihandelsabkommen fokussiert. Zugleich sollte sich die Schweiz darauf konzentrieren, den Zugang zum EU-Markt vor allem im Dienstleistungsbereich rechtlich besser abzusichern.
Der Handel nimmt aber anderswo zu: mit den USA und mit China.
Die EU ist der grösste Markt der Welt und der wichtigste Markt für die Schweiz. Die Gefahr besteht, dass sich der Zugang zu diesem Markt in einem globalen Umfeld, in dem nationalkonservative Strömungen an Bedeutung gewinnen, verschlechtern wird. Die Banken oder die Stromindustrie werden den Marktzugang verlieren, wenn wir nicht bald handeln. Mit jedem Tag, der vergeht, entstehen neue Handelshemmnisse, die sich durch einseitige Anpassung nicht beseitigen lassen. Die Schweiz sollte ein Rahmenabkommen abschliessen und den bilateralen Weg stärken.
Soll die Schweiz der EU beitreten?
Man hat die Mitgliedsfrage in den letzten 25 Jahren tabuisiert. Das Land ist heute kaum bereit für diesen Schritt.
Aber Sie persönlich fänden es gut?
Ja. Ich sage das schon lange. Die EU ist ein Garant für Frieden auf einem Kontinent mit einer konfliktbeladenen Geschichte und mit unterschiedlichen Traditionen. Die Schweiz kann viel zur EU beitragen. Ich halte es mit John F. Kennedy: Frage nicht, was Europa für dich tun kann. Frage, was du für Europa tun kannst.
Die EU bleibt ein krisenanfälliges Gebilde.
Es gab eine Flüchtlings- und eine Währungskrise. Doch das Kernstück der EU, der Binnenmarkt, ist eine Erfolgsgeschichte. Die Kommission brummt mächtigen Firmen wie Google milliardenhohe Strafen auf. Das muss man erst mal machen.
Der Brexit zeigt die Desintegration der EU.
Nein. Er zeigt, was passiert, wenn Länder innenpolitische Fehler machen. Warum hat sich England abgespalten? Warum nicht Schweden? Wegen der neoliberalen Politik, die in Grossbritannien zu einem Auseinanderdriften der Gesellschaft geführt hat. Länder wie die Schweiz, wo es einen sozialen Ausgleich gibt, haben viel weniger solche Spannungen. Die Briten haben auch bei der EU-Osterweiterung nicht weitsichtig gehandelt. Man öffnete die Grenzen komplett – ohne Not und im Gegensatz zu allen anderen Ländern, die das nicht gemacht haben.
Kriegt Theresa May die Kurve?
Die Briten setzen auf die WTO und auf bilaterale Abkommen. Doch die nichttarifären Handelshemmnisse werden sie nicht in den Griff kriegen. Sie werden mit Europa nach europäischen Normen, mit den USA nach amerikanischen Normen und mit China nach chinesischen Normen arbeiten müssen. Das verteuert die Produktion und führt zu Wettbewerbsnachteilen.
Ist die direkte Demokratie gefährdet, wenn die Schweiz der EU beitritt?
Nein. Ich zweifle am Bild, dass die Kleinen in der EU nichts zu sagen haben. Wenn Sie mit Niederländern oder Schweden reden, dann haben die durchaus einen Einfluss. Der Binnenmarkt in den 1950er Jahren war übrigens ein Benelux-Projekt. Es kam nicht von Deutschland oder Frankreich.
Handelsexperte Thomas Cottier ist der Grandseigneur der Schweiz auf dem Gebiet der Handelspolitik, ehemals Professor für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität. Er war Handelsdiplomat, Mitglied der Schweizer EWR-Verhandlungsdelegation im Bereich des geistigen Eigentums, Mitglied und Vorsitzender diverser Schiedsgerichtsausschüsse der WTO und Direktor des Berner World Trade Institute. Er ist verheiratet und Vater dreier Kinder.
Aber die Landwirtschaft hätte Probleme.
Das Stützungsniveau ist in der EU immer noch ansehnlich. Es ist zwar abgestimmt auf grössere Betriebe als hier, doch das wäre nicht das Ende der Landwirtschaft.
Dann haben wir künftig nur noch grosse Bauernhöfe im Mittelland?
Die Höfe in Europa sind in der Regel etwa doppelt so gross wie in der Schweiz. Aber wenn man in die Berggebiete von Österreich und Frankreich geht, sieht man dort auch kleine Höfe. Die Schweiz hätte nach wie vor die Möglichkeit, Bergbauernhöfe mit Direktzahlungen zu unterstützen.
Öffnen wäre also kein Problem.
Man muss die ganze Wertschöpfungskette betrachten. Die Migros erzielt Margen von 40 Prozent. Wer profitiert also effektiv vom Grenzschutz: die Bauern oder die hiesigen zwei, drei Grossverteiler? Strukturwandel muss auch nichts Schlechtes sein. Man käme weg vom Familienbetrieb, einer oft überforderten Organisationsform. Und überhaupt: Muss die Schweiz massenhaft Futtermittel importieren, um bei der Milch schliesslich einen Selbstversorgungsgrad von 115 Prozent aufzuweisen?
Von einer Handelsliberalisierung würden vor allem Konsumenten profitieren. Aber gerade sie haben zuletzt gegen den Handel votiert, etwa bei TTIP und Ceta.
Der Widerstand speist sich vor allem aus der Intransparenz. Traditionell werden Handelsverträge elitär verhandelt, durch Wirtschaft, Verwaltung, Politik. Mit der zunehmenden Bedeutung nichttarifärer Hindernisse werden aber immer mehr Bereiche in der Innenpolitik tangiert, wo das Parlament das Sagen hat.
Hat man aus den Fehlern gelernt?
Im Vergleich zu früher ist es wie Tag und Nacht. In der EU gibt es neu Anhörungen, bevor man Positionen festlegt. Beim Transatlantik-Abkommen TTIP wurden alle Verhandlungsvorschläge im Web publiziert – das gab es noch nie. Das sind gute Entwicklungen und sie helfen, die Kenntnisse über die Handelspolitik zu verbessern.
Kann sich die Schweiz etwas abschneiden?
Man sollte auch hierzulande einen Meinungsbildungsprozess aufgleisen, der es frühzeitig erlaubt, die Öffentlichkeit miteinzubeziehen. Diskussionen über die Menschenrechte in China bringen nichts, wenn die Regierung bereits verhandelt hat. Die Inputs müssten vorzeitig erfolgen.
In welcher Form?
In den USA gibt es den Trade Act. Er legt die Eckpunkte fest: Was muss in Handelsverträgen enthalten sein? Dann braucht die Regierung ein Mandat, um einzelne Abkommen auszuhandeln. Bei uns könnte es ähnlich laufen. Man muss dem Bundesrat einen Auftrag geben und ihn nach den Verhandlungen daran messen.
Braucht es wirklich ein neues Gesetz?
Ja. Der Freihandel ist eine Blackbox. Das einzige, was existiert, ist ein Bundesgesetz über aussenpolitische Massnahmen. Es gibt dem Bundesrat die volle Macht, Schutzmassnahmen zu ergreifen, wenn er das für richtig hält. Doch die Prozeduren werden nirgends geregelt. Die Frage «Sollen wir ein Handelsabkommen mit China abschliessen?» wurde erst diskutiert, als der Vertrag bereits vorlag. Das ist zu spät.
Soll man Umwelt- und Sozialthemen in Freihandelsabkommen hineinpacken?
Mit dem Klimawandel bricht eine neue Ära an. Die Handelspolitik wird zur Förderung nachhaltiger Produktionsmethoden beitragen müssen. In der WTO klappt das eigentlich recht gut. Staaten, die Klimaschutzmassnahmen ergriffen haben, wurden nicht daran gehindert, auch wenn dies zulasten des Handels ging. Bei den Menschenrechten wäre es ebenso folgerichtig, Bedenken auch in Handelsverträgen aufzunehmen, jedenfalls so weit sie sich auf die Produktionsverhältnisse auswirken.
Bundesrat Schneider-Ammann soll Präsident Xi diktieren, wie er die Arbeiter in den Fabriken bei Foxconn behandeln muss?
Die Schweiz kann China nicht sagen, wie es Produkte herzustellen hat. Aber sie kann Anforderungen an importierte Produkte stellen. Bei der Kinderarbeit wird dies bereits heute gemacht. Will man die Legitimität von Handelsabkommen langfristig sichern, muss man ethische Komponenten berücksichtigen.