Wann erholt sich die Wirtschaft von der Corona-Pandemie?
Peter Westaway:* Wir erwarten zuerst eine V-förmige Erholung, die dann zu einem ausgedehnten U wird. In allen europäischen Ländern nimmt die Wirtschaft wieder ihre Tätigkeit auf, vor allem Industrie und Dienstleistungen. Die Konsumenten sind aber noch stark verunsichert und bremsen die anfängliche Erholung. Das wird sich sicher noch bis Ende des Jahres, Anfang des kommenden hinziehen. Im dritten Quartal wird die Wirtschaft relativ stark wachsen, aber die Erholung wird sehr langsam und zäh sein.
Was heisst das konkret?
Das BIP in Europa ist um 15 bis 20 Prozent eingebrochen. Dieser Schock ist so gravierend, dass auch wenn wir zu einer gewissen Normalität zurückkehren, viele Unternehmen – gerade kleinere – diese Krise einfach nicht überleben werden, viele Menschen werden ihre Arbeit verlieren. Die Schäden werden dauerhaft sein, die Wirtschaftstätigkeit wird um etwa 2 bis 3 Prozent niedriger sein, als sie ohne die Pandemie gewesen wäre, und zwar mindestens bis Mitte nächsten Jahres. Das Risiko, dass die USA am stärksten wirtschaftlich leiden – gerade weil die Pandemie dort noch lange nicht überwunden zu sein scheint – wird auch den Rest der Weltwirtschaft runterziehen.
Und in der Schweiz? Die Binnenkonjunktur erholt sich zwar seit Ende des Lockdowns, aber die Wirtschaft ist abhängig vom Export und somit vom Rest der Welt.
Die Schweiz ist einer besseren Verfassung als andere Länder und wird sich damit auch schneller erholen können. Dabei hilft auch, dass sie wirtschaftlich so eng mit der EU verbunden ist, denn Europa schlägt sich insgesamt in dieser Pandemie vergleichsweise gut. Da die Schweiz aber so vom internationalen Handel abhängt, ist es unmöglich, sich den weiteren Auswirkungen der Virus-Krise zu entziehen. Die Weltwirtschaft ist in einer Rezession, das zieht auch die Schweiz runter. Dabei darf nicht vergessen werden, dass wir bereits geschwächt in diese Krise hineingingen, denn der Handelsstreit zwischen den USA und China belastete die Weltwirtschaft. Die Erholung, also die Rückkehr zu Wachstumsraten von vor der Krise, wird der Schweiz und einigen anderen europäischen Ländern schneller gelingen als den USA und Grossbritannien. Aber frühestens Ende 2021.
Und die längerfristigen Folgen?
Viele Firmen werden Konkurs gehen und Menschen ihre Arbeit verlieren und dann nur schwer einen neuen Job finden. Auch wenn die Zentralbanken und die Regierungen dies bisher gut abgefedert haben.
Geld- und Fiskalpolitik wirken?
Ja, die Politik hat in den meisten Ländern einen guten Job gemacht. EZB-Chefin Christine Lagarde folgt dem «Whatever it takes»-Mantra ihres Vorgängers und das funktioniert. Auch der Wiederaufbaufonds für die europäische Wirtschaft ist erfolgsvorsprechend. Gerade längerfristig ist die fiskalische Risikoteilung ein wichtiges Signal und wird jenen südeuropäischen Ländern helfen, die von der Pandemie so hart getroffen wurden. Schliesslich hatten sie Pech. Das ist der Unterschied: Sie haben diese Krise nicht selbst verschuldet und müssen nun nicht gerettet werden wie vor einigen Jahren Griechenland. Ich denke, das ist der Grund, warum es nun eine grössere Bereitschaft in der EU gibt, ihnen zu helfen.
Befeuert die Geldflut der Zentralbanken die Inflation?
Die Erholung auf der Angebotsseite wird schneller sein als bei der Nachfrage. Daher ist es schwer vorstellbar, dass die Inflation in den nächsten zwölf Monaten anzieht. Das Inflationsrisiko kommt erst, wenn sich die Wirtschaft wieder «normalisiert» – wann auch immer das sein mag. Solange die Menschen verunsichert sind und weniger konsumieren, sehe ich kein Risiko. Trotz der extrem lockeren Geldpolitik verzögern sich die Ausgaben und Investitionsentscheidungen der Unternehmen. Hier müssen die Zentralbanker sehr wachsam sein, damit sie den richtigen Zeitpunkt nicht verpassen, wenn Ausgaben wieder zurück kommen.
Wann ist dieser Moment – wenn die Inflation anzieht?
Dann ist es eigentlich schon zu spät. Die Zentralbanken müssen sehr wachsam sein.
Auch nach der Finanzkrise wurde gewarnt, dass die Geldflut die Inflation befeuert, aber es kam nie dazu.
Ich denke, diesmal wird es genauso sein. Was aber auffällt: Die Zentralbanken finanzieren die Schulden der Staaten und diese müssten sie zurückzahlen. Doch ein Grossteil der Schulden, welche die Notenbanken in den vergangenen Jahren kauften, wurden nie zurückgezahlt. Das ist nicht das Ende der Welt, aber entscheidend ist, dass die Zentralbanken bestimmen, wieviel der Schulden sie tragen, sprich wieviel Geld sie drucken, und nicht Regierungen. Irgendwann müssen sie die Bremsen anziehen, aber nicht jetzt.
Wie gefährlich ist die Rekordverschuldung?
Ein Grossteil der Schulden wurden zu sehr niedrigen Zinsen und mit sehr langen Laufzeiten ausgegeben. Das ist richtig. Denn die Kosten des Schocks, den wir erlebt haben, werden auch künftige Generationen noch tragen – vergleichbar mit einem Krieg. Die Zinsen für italienische Staatsanleihen beispielsweise sind heute niedriger als vor zehn Jahren. Das ist entscheidend, um die Schulden wieder auf ein tragfähiges Niveau zu reduzieren. Klar, muss irgendwann auch wieder gespart werden, aber nicht jetzt. Dieser Fehler wurde nach der Finanzkrise gemacht: Es wurde mit dem Sparen begonnen, bevor die Wirtschaft sich erholt hatte. Letztlich ist alles eine Frage des richtigen Zeitpunkts.
Rechnen Sie mit einer Verschärfung im Handelsstreit – gerade in Hinblick auf die US-Wahl?
Nein. Die Beziehungen zwischen den USA und China sind vielfältig. Präsident Trump wird sicher keinen freundlicheren Ton gegenüber China anschlagen. Sollte Joe Biden die Wahl gewinnen, werden die USA wieder stärker den multilateralen Weg einschlagen. Aber die Beziehungen mit China werden nicht plötzlich wieder freundlich sein. Die USA und China rivalisieren um die globale Tech-Herrschaft, das wird auch so bleiben, egal wer im Weissen Haus sitzt.
Die Wirtschaft liegt am Boden, aber an den Börsen ist das nicht wirklich spürbar. Haben sie sich von der Wirtschaftsentwicklung entkoppelt?
Die Börsen haben diese Risiken teilweise nicht genügend eingepreist – das gilt vor allem für die USA. Die fiskal- und geldpolitischen Massnahmen sind immens, darauf vertrauen die Märkte. Die Frage ist, wieso die europäischen Märkte nicht so gut performen wie der amerikanische – das beunruhigt mich. Der US-Aktienmarkt ist zu optimistisch.
Was raten Sie Schweizer Anlegern?
Investieren Sie nicht nur in heimische Anlagen, halten Sie ein global diversifiziertes Portfolio mit einem ausgewogenen Verhältnis von Aktien and Anleihen. Die Anleiherenditen sind zwar miserabel im Moment, aber sie gleichen die grossen Kursschwankungen bei den Aktien aus. Und sind daher wichtig im Portfolio.
Was bedeutet die Corona-Krise für den Brexit?
Nach einer Verlängerung sieht es derzeit nicht aus. Ein einfacher Vertrag wird wohl bis Ende des Jahres zustandekommen. Die Details wird man bis dahin aber noch nicht klären können. Aber auch eine No-Deal-Situation ist nicht ausgeschlossen. In jedem Fall ist klar, dass die Folgen für Grossbritannien sehr negativ sein werden. Aber in der jetzigen Situation wird der wirtschaftliche Schaden durch den Brexit in Grossbritannien nicht so sichtbar sein, wie ohne Corona-Krise. Ich schätze, der Brexit wird damit auch in der öffentlichen Wahrnehmung etwas untergehen.
Dass Grossbritannien Ende des Jahres aus der Zollunion und dem Binnenmarkt fliegt, ist also gar nicht so schlimm?
Die britische Wirtschaft ist heute am Boden. Was ist schon ein 5-prozentiger BIP-Rückgang gemessen an einem Einbruch von 20 Prozent in diesem Quartal. Wenn sich die britische Wirtschaft wieder erholt, ist das natürlich das letzte, was wir gebrauchen können. Aber inmitten der Corona-Krise wird dieser zusätzliche wirtschaftliche Schaden nicht mehr so spürbar sein. Längerfristig ist der Schaden natürlich immens, aber als politisches Argument verliert dies nun an Gewicht.