«Übermut tut selten gut!», hat meine Grossmutter jeweils gesagt, wenn ihre Enkel Blödsinn gemacht und sich wehgetan haben. Dabei hat sie immer gelächelt.
Vielleicht hat sie gewusst, dass es Mut zum Leben braucht. Und eine «Vision». Ein Bild von dem, was sein kann, aber noch nicht ist. Ein Bild, das besser ist als das, was ist, und das, was war.
Auch Gesellschaften brauchen Visionen und Mut, um sich positiv zu entwickeln. Doch beides scheint uns heute abhandengekommen zu sein. Es sieht so aus, als hätten Corona-Krise, Ukraine- und Nahost-Konflikt uns das Licht des Optimismus ausgeknipst. Als wären uns die Träume abhandengekommen. Statt «Think Big» zu leben, suchen wir das «Glück im Kleinen». Nicht nur die Alten, auch die Jungen.
Der Gastautor
Der Ökonom Klaus Wellershoff ist Gründer und Verwaltungsratspräsident von Wellershoff & Partners, Honorarprofessor an der Universität St. Gallen und regelmässiger Kolumnist der «Handelszeitung».
Neben Vision und Mut sind uns auch unsere Vorbilder abhandengekommen. Ob man sie mag oder nicht. Greta war ein Vorbild. Nicht für alle, aber für viele. In der Wirtschaft darf man kein Geld verdienen. In der Politik darf man nicht mal mehr lachen. Nicht der rheinisch-humorige Armin Laschet wurde deutscher Bundeskanzler, sondern der mit Teflon beschichtete, Fleisch gewordene Technokrat Olaf Scholz.
Unsere Gesellschaften sind einer neuen Mutlosigkeit verfallen. Die Herausforderungen sind gross, aber alles verschwimmt im kleinteiligen Kompromiss. Gelöst wird nichts, dafür vieles vertagt. Oder wir lassen es verlottern, wie die Europafrage.
Unser Risikoappetit ist auf einem Tiefpunkt angekommen und wir wundern uns, dass wir weder gesellschaftlich noch wirtschaftlich vorwärtskommen und unsere Stimmung im Keller ist.
Zukunft erscheint nicht mehr gestaltbar. Wie auch, ohne Vision?
Wenn wir alles, jede und jeden problematisieren, versinken wir im Treibsand des Kulturpessimismus. Was uns fehlt, ist die Einsicht, dass grosse Dinge Ecken und Kanten haben, dass jedem Gewinn auch ein Verlust innewohnt, dass Neues nur unter Aufgabe des Alten zu haben ist, dass jeder Schritt in eine unbekannte Zukunft ein Experiment ist, das nicht nur schiefgehen kann, sondern auch schiefgehen darf.
Unsere dringendste Aufgabe heute ist es, diese bessere Zukunft zu entwerfen, damit wir vorwärtskommen. Vor grossen Bildern von morgen verblassen die kleinen Probleme von heute und werden überwindbar. Eine Vision macht sonst Unmögliches möglich.
Und unser aller Aufgabe ist es Vorbild zu sein, für uns selbst und für die anderen. Nur dann fassen wir gemeinsam den Mut, den wir für das Gewinnen der Zukunft brauchen.