Einst waren die Deutschen stolz auf ihr Land, ihre Wirtschaft und die Fussballnationalmannschaft. Lange galt Deutschland als Exportweltmeister und die Konjunkturlokomotive Europas.
Davon ist nicht mehr viel übrig, das Sommermärchen Auflage 2024 endete abrupt im EM-Viertelfinale gegen Spanien. Die Wirtschaft dürfte mit einem prognostizierten Wachstum von 0,3 Prozent in diesem Jahr stagnieren.
Exemplarisch für die Misere: die Pünktlichkeit der Deutschen Bahn im Juni. Gerade mal 52,5 Prozent der Fernzüge kamen ohne Verspätung ins Ziel – so wenige wie noch nie. «Deutschland hat in den letzten Jahren zu wenig in die Infrastruktur investiert. Das rächt sich nun und zeigt sich exemplarisch bei der Deutschen Bahn», sagt Jan-Egbert Sturm (55), Direktor der Konjunkturforschungstelle der ETH Zürich (KOF).
Börsenchef klagt an
Dabei sind nicht nur die Schienenstränge marode, auch viele Autobahnen sind in einem lamentablen Zustand, alleine rund 5000 Brücken dringend sanierungsbedürftig. In vielen Gegenden ist das Glasfaserkabel als Rückgrat einer schnellen Dateninfrastruktur eher die Ausnahme als die Regel.
Die launige «Bierzeltrede» von Theodor Weimer (64), Chef der Deutschen Börse, wirft seit Wochen hohe Wellen. Der höchste deutsche Börsianer sieht Deutschland wirtschaftlich «auf dem Weg zum Entwicklungsland» und «als Ramschladen». Auch wenn Weimer viel Kritik einstecken musste, einen wunden Punkt hat er getroffen: Die mangelnde Bereitschaft von Investoren, ihr Geld in Deutschland anzulegen – und damit in die Zukunft der deutschen Wirtschaft zu investieren. Das hat auch mit der Stimmung im Land zu tun.
Weniger Exporte nach Deutschland
«Mich beunruhigt am meisten, dass die Investoren in Deutschland sehr zurückhaltend sind. Das Investitionsniveau liegt immer noch fünf Prozent unter der Vor-Coronazeit», sagt Sturm. Zum Vergleich: In der EU liegen die Investitionen längst wieder darüber, für die Schweiz gilt Ähnliches.
Auch Schweizer Firmen sind an der Investitionsflaute in Deutschland mitbeteiligt, wie Jean-Philippe Kohl (58), Vizedirektor des Branchenverbandes Swissmem, weiss: «Viele Schweizer Industriefirmen haben Teile der Produktion ausgelagert. Wenn es darum geht, Kosten in der Wertschöpfungskette zu sparen, steht Deutschland nicht an erster Stelle. Wenn in Deutschland investiert wird, dann vor allem, um nahe bei den Kunden zu sein.»
Nicht nur als Investitionsziel verliert Deutschland an Bedeutung, sondern auch als Absatzmarkt für die Schweizer Wirtschaft: Von 2014 bis ins letzte Jahr sank der Anteil Deutschlands an den Exporten von 22,5 auf noch 18,4 Prozent. In die Bresche sprangen dabei zum Teil andere europäische Staaten.
Problemfall Autoindustrie
Deutschland im Niedergang, doch Häme ist aus Schweizer Sicht nicht angezeigt. Trotz sinkender Bedeutung bleibt unser nördlicher Nachbar einer der wichtigsten Absatzmärkte für unsere Wirtschaft. «Unsere Firmen spüren die Zurückhaltung in Deutschland stark. Weil es nicht rund läuft, sinkt der Bedarf an Investitionsgütern aus der Schweiz», sagt Kohl. Und spricht besonders eine der wichtigsten Branchen in Deutschland an. «Die Autoindustrie in Deutschland weiss nicht, wohin die Reise geht. Es wird weniger investiert, entsprechend braucht es auch weniger Zulieferer aus der Schweiz.»
Das Problem: Die deutsche Autoindustrie hat bei der Umstellung auf Elektromobilität Nachholbedarf, andere Länder wie etwa China sind bedeutend weiter. Auch, weil sie nicht durch die Vergangenheit mit dem Verbrennermotor belastet sind. Sich von einem Erfolgsmodell zu trennen, ist eine herausfordernde Aufgabe.
Politik wurschtelt rum
Viele Industrieländer kämpfen mit Wachstumssorgen, in Deutschland sorgt ein zusätzlicher Faktor für grosse Verunsicherung: die Politik. Alle von Blick befragten Experten sind sich einig, die Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen ist kein Aufputschmittel für die Wirtschaft. «Man hat den Eindruck, die Regierung wurschtelt sich durch, ohne klares Profil. Das wirkt sich auch auf die Wirtschaft negativ aus.» Der Ökonom Klaus Wellershoff (60) ergänzt: «Der wirtschaftliche Aufschwung wird schwierig werden, solange Deutschland das Politische nicht in den Griff bekommt.»
Das Problem: «Die Deutschen sind schlecht darin, Kompromisse zu machen. Sie empfinden einen Kompromiss als Streit oder Uneinigkeit», so Wellershoff. Ganz anders in der Schweiz, wo der Kompromiss oftmals das Ziel der politischen Auseinandersetzung ist.
Talsohle erreicht?
Dazu komme, dass die Menschen in ganz Europa – so auch in Deutschland – weniger arbeiten wollen. «Das hat Folgen für die Wirtschaft und den Staat: Es fehlen die Fachkräfte und dem Staat die Steuern, um den Haushalt zu finanzieren», so Wellershoff.
«Schaffe, schaffe, Häusle baue.» Diese Zeiten scheinen in Deutschland im Moment vorbei. Nicht nur wegen der gestiegenen Zinsen und der Flaute im Immobiliensektor. Immerhin, abschreiben sollte man deswegen Deutschland noch lange nicht: «In unseren Prognosen gehen wir davon aus, dass Deutschland die Talsohle erreicht hat. Die Weltkonjunktur erholt sich, die Reallöhne steigen, die Konsumenten können sich wieder etwas mehr leisten», macht Sturm etwas Hoffnung für unseren nördlichen Nachbarn.
Dieser Artikel erschien zuerst bei Blick.ch unter dem Titel «Warum Häme aus Schweizer Sicht nicht angezeigt ist».