Die EZB erhöht erstmals seit 2011 den Leitzins und reagiert mit einem kräftigen Schritt nach oben auf die ausufernde Inflation. Die Währungshüter um EZB-Chefin Christine Lagarde beschlossen am Donnerstag, den sogenannten Hauptrefinanzierungssatz um einen halben Punkt auf 0,50 Prozent zu erhöhen. Auch der Einlagensatz wurde angehoben – und zwar auf 0,00 Prozent.
Banken müssen somit nicht mehr draufzahlen, wenn sie überschüssiges Geld bei der EZB parkieren. Die Wende nach einer Ära der ultra-lockeren Geldpolitik gilt als historisch. Die Rekordinflation im Euro-Raum bewegte die EZB zu dem ungewöhnlich kräftigen Straffungsmanöver: Angefacht von immer teurerer Energie im Zuge des Ukraine-Kriegs stiegen die Verbraucherpreise zuletzt um 8,6 Prozent. Die EZB verfehlt damit ihr Inflationsziel sehr deutlich. Denn sie strebt 2 Prozent als optimalen Wert für die Wirtschaft an.
Das Ende der Negativzinspolitik ist damit besiegelt. Dem Euro verlieh die Entscheidung zunächst Flügel, danach verpuffte die temporäre Euro-Stärke. Gegenüber dem Franken stieg er innert Minuten fast auf Paritätsniveau, um dann innert Kürze abzustürzen.
Der europäische Bankenindex kletterte in einer ersten Reaktion ebenfalls nach oben, um dann wieder an Schub zu verlieren. Analog die Entwicklung beim deutschen Leitindex Dax. Er beendete den Tag sogar rot.
Anti-Krisen-Programm der EZB gegen Italo-Strudel
An den Nerven der Aktienanleger nagten am Donnerstag die Regierungskrise in Italien und die Unsicherheit bezüglich weiterer Gaslieferungen Russlands. Investoren waren auch skeptisch, was die Details des sogenannten Anti-Fragmentierungstools der EZB angeht. Damit soll das Auseinanderlaufen der Anleihe-Renditen einzelner Euro-Staaten verhindert werden.
Die Europäische Zentralbank (EZB) hat erstmals seit mehr als einem Jahrzehnt den Leitzins erhöht. Analysten und Wirtschaftsvertreter sagten dazu in ersten Reaktionen:
Jörg Krämer, Chefvolkswirt Commerzbank:
«Es ist gut, dass sich die EZB heute zu einem grossen Zinsschritt von einem halben Prozentpunkt durchgerungen hat. Aber das kann nur ein Anfang sein. Der Euro-Raum mit seinem tiefgreifenden Inflationsproblem braucht eine Serie grosser Zinsschritte, um den Leitzins rasch über das sogenannte neutrale Niveau zu bringen, das wir bei knapp 3 Prozent sehen. Nur dann würde die EZB die Konjunktur nicht mehr anfachen, sodass die Inflation mittelfristig wieder sinken würde. Aber die EZB schielt auf die hoch verschuldeten Länder wie Italien, die weiter auf niedrige Leitzinsen drängen dürften, obwohl die EZB heute ein Hilfsprogramm für diese Länder beschlossen hat. Die Inflation dürfte noch viele Jahre deutlich über den versprochenen 2 Prozent liegen.»
Christian Ossig, Bundesverband deutscher Banken (BDB):
«Mit der Erhöhung der Leitzinsen um 50 Basispunkte stellt sich die EZB der Inflation entschlossen entgegen. Damit beenden die europäischen Währungshüter endlich nach acht Jahren die Phase der Negativzinspolitik. Sie zeigen damit, dass sie die hohe Inflation nicht dauerhaft hinnehmen wollen. Das ist auch ein wichtiges Signal an die Tarifparteien.»
Cristian von Angerer, Chief Investment Officer Inyova:
«Die EZB-Erhöhung wurde lange erwartet, um der Inflation in den EU-Ländern entgegenzuwirken. Ihre Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft und die Märkte sind den Marktteilnehmern ziemlich klar. Aber was bedeutet sie für die Nachhaltigkeit und den Übergang zu erneuerbaren Energien? Es wird die Umstellung auf erneuerbare Energien noch schwieriger gestalten. Untersuchungen, darunter eine Analyse von Prof. Dr. Tobias Schmidt, Leiter der Energie- und Technologiepolitik an der ETH Zürich, zeigen, dass 75 Prozent der grossen Unternehmen im Bereich der erneuerbaren Energien hoch verschuldet sind und die Kosten für die Kapitalbeschaffung durch Zinsanstiege erheblich steigen könnten. Die Analyse kommt zu dem Ergebnis, dass in einem Szenario mit einem moderaten Zinsanstieg die aufgrund des Wissens- und Technologiefortschritts niedrigeren Kosten von Solarkraftwerken durch höhere Zinsbelastungen kompensiert würden. Das heisst, höhere Zinsen könnten uns um Jahre im technologischen Fortschritt zurückwerfen.»
Die Verzinsung hoch verschuldeter Euro-Staaten wie Italien hatte zuletzt besonders kräftig zugelegt, was die Finanzierungskosten für diese Länder erhöht. Die italienische Regierungskrise hat die Entwicklung nochmals befeuert. Die Anleger warfen italienische Staatsanleihen aus den Depots, wodurch die Rendite der zehnjährigen Titel auf 3,690 Prozent stieg. Dies setzte den italienischen Banken zu, die traditionell hohe Bestände dieser Bonds halten.
EZB-Präsidentin Christine Lagarde wollte sich nicht zur Krise in Rom äussern. «Die EZB nimmt keine Stellung zu politischen Angelegenheiten», sagte sie am Donnerstag an der Pressekonferenz nach der Erhöhung der Leitzinsen. Dies sei Sache des demokratischen Prozesses jedes einzelnen Mitgliedstaates und gelte auch für Italien.
Zum neuen Tool der EZB sagte sie, dass man sich einstimmig darauf verständigt habe. Jedes Land der Euro-Zone könne im Prinzip in den Genuss des Programms kommen. Es sei für spezielle Situationen und Risiken geschaffen worden, die jeden Staat treffen könnten. Die EZB wolle damit «ungerechtfertigten, ungeordneten Marktdynamiken» entgegenwirken, die eine ernsthafte Bedrohung für die Wirkung der Geldpolitik im Euro-Raum darstellen.
Der EZB-Rat werde bei Bedarf darüber entscheiden, ob dieses Programm für ein Land aktiviert werde. Dabei würden die Währungshüter eine Reihe von Indikatoren als Kriterien heranziehen. Der EZB-Rat werde darüber in eigener Regie entscheiden, betonte Lagarde.
(awp/reuters/gku)