Herr Wellershoff, sind Sie vom Ausmass der Corona-Krise überrascht?
Klaus Wellershoff: Wenn Sie mich vor einem Jahr gefragt hätten, wie schnell die nächste Weltrezession kommt und wie gross sie wird, dann wäre ich nicht auf solche Grössenordnungen gekommen. Wenn Sie mich vor zwei Monaten gefragt hätten, wäre ich nicht überrascht gewesen. Dann war das Ausmass schon absehbar.
Klaus W. Wellershoff ist Ökonom und leitet das von ihm gegründete Beratungsunternehmen Wellershoff & Partners. Er war Chefökonom der UBS und unterrichtet Nationalökonomie an der Universität St. Gallen.
Verdrängen wir momentan die Grössenordnung der Wirtschaftskrise?
Auf der einen Seite ist es sehr schwer, sich das Ausmass vorzustellen. Ein Beispiel: Nach allem, was wir bis jetzt sagen können, wird das amerikanische Budgetdefizit in diesem Jahr zweimal so gross sein wie die gesamte italienische Staatsverschuldung. Das kann man sich schwer vorstellen. Auf der anderen Seite haben ganz viele Beobachter und auch viele Kollegen aus meinem Fach mit der realen Welt gar nicht so viel zu tun. Wenn Sie nur an der Universität sind, braucht es einen Moment, bis Sie verstehen, was bei den Unternehmen wirklich passiert.
Was ist Ihre grösste Befürchtung für das weitere Fortschreiten der Krise?
Die grösste Befürchtung muss sein, dass unsere gesellschaftlichen Institutionen in der Krise so viel an Glaubwürdigkeit verlieren, dass unsere Gesellschaften instabil werden.
«Dieser Gap zwischen der Erwartung der Menschen und dem, was der Staat richten kann, ist gesellschaftspolitisch gefährlich.»
Dabei denken Sie an den Westen, nicht an China?
Unser Eindruck ist, dass die Chinesen auf diese Krise relativ vernünftig reagiert haben. In einem autokratischen Staat wie China sind es die Menschen zudem gewohnt, dass die Regierung Massnahmen auch gegen den Willen der Bevölkerung hart durchsetzt. Im Moment haben wir in den westlichen Industrienationen noch die Situation, dass sehr viele Menschen aus gutem Willen und Solidarität die Massnahmen der Regierungen mittragen. In dem Masse, wie es nun wirtschaftlich schwieriger wird und die Probleme der Situation zum Tageslicht kommen, wird diese Unterstützung bröckeln. Dies in einer Situation, wo die Regierungen wohl mehr unbewusst als bewusst mehr versprochen haben, als sie angesichts dieser verheerenden Krise liefern können. Dieser Gap zwischen der Erwartung der Menschen und dem, was der Staat richten kann, ist gesellschaftspolitisch gefährlich.
In den USA ist die Arbeitslosenquote auf 14,7 Prozent gestiegen – der der höchste Wert seit dem 2. Weltkrieg. In der Schweiz arbeiten knapp 50 Prozent in Kurzarbeit. Wird dies noch viel grössere Dimensionen annehmen?
In den USA sind wir in einer Situation, die ist absolut historisch. Wir haben in den letzten sechs Wochen 36 Millionen Menschen gehabt, die sich neu angemeldet haben für Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung. Dies ist ins Verhältnis zu setzen zu 157 Millionen Beschäftigten vor Ausbruch der Krise. Wir reden von jedem fünften Arbeitnehmer, der keinen Arbeitsplatz mehr hat, in der Privatwirtschaft ist das sogar jeder Vierte. Arbeitslosigkeit wird auch bei uns ein Thema sein. Zum Glück sind unsere Sozialversicherungen besser ausgestattet. Doch in vielen Industrienationen werden auch andere Dinge zum Thema werden. Wir sind wieder in einer Situation, in der die Zentralbanken mit der Attitüde zu Werk gehen, dass sie die Welt retten können. Dies erscheint angesichts einer solchen Herausforderung viel schwieriger als in der Finanzkrise, wo es im Wesentlichen darum ging, das Finanzsystem zu stützen. Das Vertrauen in die Zentralbanken wird deutlich sinken.
«Wenn die Fiskalpolitik dermassen mit der grossen Kelle anrührt, kann eine Zentralbank praktisch nicht mehr unabhängig sein.»
Die US-Nationalbank Fed hat ja nun angefangen, den Staat indirekt zu finanzieren.
Wir können seit einigen Wochen sagen, dass die US-Zentralbank nicht mehr unabhängig ist. Wir haben die Situation erlebt, dass diese im Rahmen einer Auktion neu auferlegter Staatsanleihen während der Auktion auftreten musste, um das Absetzen der Staatsanleihen zu garantieren. Zu den knapp 30 Prozent Budgetdefizit des Volkseinkommens, das die Amerikaner dieses Jahr mit grosser Wahrscheinlichkeit bekommen werden, kommt noch die Refinanzierung der ausstehenden Staatsschuld hinzu. Die USA wird annähenrd die Hälfte ihres Jahreseinkommens dafür aufbringen müssen, ihre Regierung zahlungsfähig zu halten. Dies können die amerikanischen Sparer mit ihrer niedrigen Sparquote nicht. Das muss die Zentralbank machen.
Dies führt zum Vertrauensverlust…
In der Phase, wo die Fiskalpolitik dermassen mit der grossen Kelle anrührt, kann eine Zentralbank praktisch nicht mehr unabhängig sein. Dies ist ein grosser Vertrauensverlust.
Wird die Inflation wegen der Massnahmen der Zentralbanken nicht zunehmen?
Eine Reihe der getroffenen Massnahmen haben erstmals dazu geführt, dass das Geld in den Händen der privaten Haushalte ankommt. Dies ist im Sinne der konjunkturellen Krisenbekämpfung sicherlich eine gute Sache. Im Sinne des Inflationsausblicks ist dies jedoch sehr schwierig. Zunächst gibt es einen deflationären Schock über den Erdölpreis. Sicherlich über die Rabattmassnahmen einiger Detailhändler. Die Inflationsraten werden erst einmal in den Keller rauschen. Wenn die Welle durch ist, dann werden wir alle beginnen, ganz kritisch hinzuschauen, ob wir dieses Mal nicht tatsächlich sehr schnell mehr Inflation sehen.
Dies wäre doch gut für die Staatsverschuldung...
Ja, wenn die Staaten in diesem Umfeld in der Lage sind, sich zu refinanzieren. Das ist aber ein grosses «Wenn». Es ist klar, wenn die Schweiz neue Obligationen von beispielsweise 10 Milliarden Franken auflegen will, dann ist dies für den Finanzmarkt nicht schwierig zu verkraften. Wenn aber die ganze Welt gleichzeitig so grosse Schulden schaffen will und die Inflationsraten ins Steigen geraten würden, dann wird es wahnsinnig schwierig, sich am Markt zu finanzieren. In dieser Situation wird man die Zentralbanken dazu zwingen, noch mehr Geld zu drucken. Dies könnte eine Ursache für eine schnelle Inflationsbeschleunigung sein.
Wir befinden uns eigentlich in einer Sackgasse.
Wir befinden uns in einem perfekten Sturm. Wir können leider nicht darauf vertrauen, dass nach der Rezession alles so milde weiterverlaufen wird, wie es vor der Rezession der Fall war.
V, U, L, W? – «Ich verstehe die ganze Buchstabensuppe überhaupt nicht.»
Die Prognosen über die wirtschaftliche Entwicklung gehen recht auseinander. Einige sprechen von einer V-Erholung, andere favorisieren eine U oder L-Entwicklung. Macht es momentan überhaupt Sinn, etwas über ein Jahr hinaus vorherzusagen?
Das macht nie Sinn. Wenn wir die Wirtschaftsentwicklung innerhalb eines Jahres mit den Prognosen der Ökonomen vergleichen, dann ist der Informationsgehalt äusserst niedrig. Dies ist schon in normalen Zeiten so. Das ist umso mehr in der jetzigen Zeit der Fall. Deshalb verstehe ich die ganze Buchstabensuppe überhaupt nicht. Diese suggeriert, wir wüssten wahnsinnig viel über das, was im Winter oder nächsten Frühling passiert. Das stimmt nicht. Niemand weiss, wie dann die Gesundheitslage geschweige die wirtschaftliche Entwicklung sein wird. Wir würden dringend davon abraten, darüber nachzudenken - und man muss es auch gar nicht. Denn schon heute sind schon viele Dinge klar.
Die wären?
Es ist klar, dass einige Länder schon im ersten Quartal einen erheblichen Wachstumsrückgang gesehen haben. Und das zweite Quartal wird noch einen viel stärkeren Rückgang in der Wirtschaftsaktivität zeigen. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass wir im dritten Quartal im Vergleich zu diesem Einbruch nicht noch einen solch starken Einbruch sehen werden. Der politische Druck zu Lockerungsmassnahmen ist schon heute sehr gross. Gleichzeitig sehen wir dort, wo die Lockerungsmassnahmen schon länger greifen wie in China, die Wirtschaftsaktivität nicht sofort zurückkommen wird. Man kann rechnen, wie man will. Das Gesamtjahr wird nicht positiv verlaufen.
Was bedeutet dies für die Unternehmen?
Der Unternehmenssektor wird in diesem Jahr insgesamt keinen Gewinn, sondern Verluste schreiben. Wir wissen, dass ein investitionsgetriebener Aufschwung in einer solchen Situation praktisch unmöglich ist. Auch von der Konsumseite kann der Aufschwung nicht stark sein. Denn wir können mit Sicherheit sagen, dass eine flächendeckende Impfung in diesem Jahr nicht mehr erreicht und dass die von vielen gewünschte Herdenimmunität so schnell nicht stattfinden wird. In irgendeiner Form müssen wir unser Leben als Konsumenten anders einrichten, als dass wir dies vor der Krise getan haben.
Was empfehlen Sie den Anlegern in dieser Krise?
Wir rauschen momentan in die grösste Rezession unserer Lebzeit. An den Finanzmärkten werden immer noch Erwartungen gehandelt, die das nicht reflektieren. Der Konsens der Aktienanalysten für Amerika geht bei den Unternehmensgewinnen davon aus, dass es nach dem Rückgang im zweiten Quartal wieder brutal raufgeht. In den drei letzten Rezessionen, die wohl allesamt kleiner waren als die aktuelle Rezession, sind die Unternehmensgewinne über einen viel längeren Zeitraum nicht angestiegen, sondern noch weiter gefallen. Wir sind in einer Phase, in der Risiko eher gemieden werden muss. Vor dem Hintergrund der gestiegenen Börsenkurse im April ist dies ein gutes Niveau, um die Aktienquote tief zu halten. Die Gefahr, hier nochmals sehr substanziell zu verlieren, ist gemessen an den vorherigen Weltrezessionen erheblich. Da sind die Börsenkurse jeweils um 50 Prozent zurückgegangen. Wir befinden uns momentan je nach Land zwischen 5 und 25 Prozent.
- Dieser Beitrag erschien zuerst in «Cash.ch» unter dem Titel: «Klaus Wellershoff: «Wir rauschen momentan in die grösste Rezession unserer Lebzeit».