Total süchtig waren New Yorker den Sommer über nach der Kuppel-App Tinder. Mit einem Fingerwischen warfen sie mögliche Romanzen in den digitalen Müll oder hielten sich potentielle Kandidaten durch oberflächliche Konversationen warm. Aber mit dem Ende der Ferien geht auch der Tinder «Summer-of-Love zu Ende». Der Alltag stresst, es muss schneller gehen. Let it Happn: Gleich hier. Gleich jetzt.
Das Prinzip klingt spannend: «Finde wieder, wem du begegnest», verspricht die App. Man hat jemand Interessanten im Alltag gesehen, war aber zu langsam oder hat sich nicht getraut, die Person anzusprechen. Für solche «missed connections» - verpasste Begegnungen - hat die Kleinanzeigenseite Craigslist eine eigene, unterhaltsame und in New York sehr populäre Kategorie. Hier könnte die App anknüpfen.
Mit Lokalisierung zur schnelleren Kontaktmöglichkeit
Wie andere Dating-Apps auch, zeigt mir Happn Profilbilder von Frauen. Von Facebook gezogen, um Fake-Profile zu verhindern. Der Unterschied: Angezeigte Gesichter könnte ich schon kennen. Sie sollen weniger als 250 Meter entfernt sein, zumindest so die Theorie. Dafür muss Happn natürlich permanent meinen Standort überwachen und soll so schneller zum Techtelmechte führen als Tinder - wo ich im Übrigen nach einer halben Stunde mein erstes eindeutiges Angebot bekomme.
Obwohl ich neu in der Stadt bin, gehe ich mit der naiven Hoffnung auf bekannte Gesichter in die Mittagspause zu meinem Stammplatz in Downtown Manhattan. Hier sitzen viele Menschen im kreisrunden Park «Bowling Green». Von den gerade mal drei auf meinem Display angezeigten Mädels kenne ich nicht nur keins, sie sind hier im Park auch nirgends zu sehen. Beim genaueren Blick ins Profil der Köchin «Beth» (43) wird mir klar, warum: «Jetzt 6 km von dir entfernt», erklärt mir die App.
Verpasste Gelegenheit
Die Gelegenheit als Hobby-Koch mit einem Profi zu plaudern, habe ich also verpasst. Mist, genau dieses Gefühl sollte die App doch verhindern. Immerhin kann ich nachträglich noch Interesse signalisieren. Ich klicke das Herzchen, auch wenn mich die Neugier antreibt und nicht die Suche nach einem Partner oder einer Bettgeschichte. Sollte Beth auch neugierig sein, könnten wir miteinander chatten. Etwas sagt mir, dass das nicht passieren wird. Zurück im Büro finde ich ihre Webseite im Internet und fühle mich schon wie ein Stalker. Aber nennen wir es Recherche.
Will ich wirklich über die App jemanden treffen, muss ich unter mehr Leute. Am Abend gehe ich in den Central Park zum kostenlosen Freiluftkino. Vielleicht heben gemeinsame Interessen den Sympathie-Faktor?! Die Atmosphäre ist entspannt, die Grillen zirpen, der abendliche Wind kühlt die Stadt ab. Vorige Woche habe ich hier schon lustige Menschen getroffen (ohne Happn). Ich ersetze meine lausigen Facebook-Fotos, auf denen man kein Gesicht sieht und ändere die Voreinstellung der App, um nicht nur Frauen angezeigt zu bekommen.
Herzchen für alle
Geschätzt 1'000 Menschen sehen sich mit mir den Film an. Happn benutzen die allerdings nicht. Nur vier weitere Profile landen auf meinem Display. Ich gebe allen ein Herzchen, bei so wenig Angebot wird man anspruchslos: Drei Frauen und einem Typen. Kurzes inne halten, und es passiert: Nichts. Unterdessen bekomme ich von einsamen New Yorkerinnen neue Tinder-Nachrichten. Ungläublig lade ich Happn ständig neu. Die entspannte Atmosphäre geht flöten. So lernt man keine Sitznachbarn kennen.
Ich gehe nach Hause und schicke Beth von heute morgen einen «Charm», eine Benachrichtigung, damit sie aufmerksam wird. Das kostet! Einen «Credit» – zehn Credits habe ich mit der Anmeldung bekommen. Mehr kriege ich, wenn ich Freunde werbe, oder wahrhaftig und in Dollar bezahle. In den nächsten Tagen tröpfeln einzeln weitere Gesichter auf mein Display.
Meine Hoffnung stirbt
Als ich schon aufgeben will, erhalte ich eine Übereinstimmung mit Lillián (23) und kann jetzt mit ihr reden - theoretisch. Laut Profil mag sie Technologie, Medien und Fotojournalismus (ha, Gemeinsamkeiten!) und lügt bei Facebook mit ihrem Alter. Stunden später hat Lillián («jetzt etwa 5 km von dir entfernt») laut App ihr Profil aber noch nicht wieder besucht. Meine Hoffnung stirbt.
Ich befürchte, auch die Chance Beth zu begegnen ist wohl höher, wenn ich die Nummer auf ihrer Webseite anrufe und sie einfach zum Kochen einlade. Vorausgesetzt, sie findet es nicht total beängstigend, dass ich sie gestalked – äh recherchiert habe.
Dieser Artikel erschien zuerst auf Bold Economy – das umfassende Nachrichtenportal zur digitalen Revolution.