Bei Kistler holt einen der Chef persönlich am Empfang ab. Im Lift folgt ein munterer Smalltalk über das anhaltend schlechte Wetter. Und schon sitzt man im gediegenen Konferenzzimmer in Winterthur-Wülflingen, wo Kistler seinen Hauptsitz hat und nicht etwa eine Assistentin den Kaffee und das Mineralwasser reicht, sondern der CEO selbst. 2001 hat Rolf Sonderegger hier probehalber das Ruder übernommen. Definitiv ja gesagt hat er, als sein Vater und Co-Firmengründer Hans-Conrad Sonderegger im Februar 2002 verstarb.
«Ich hatte stets etwas Mühe damit, zu machen, was man landläufig so macht und worüber gesagt wird, es sei gut für einen», sagt Sonderegger, wenn man ihn fragt, warum er Wirtschaft studiert hat. In einer Familie aus lauter Ingenieuren war der Entscheid zum Ökonomiestudium bemerkenswert und nicht gerade die ideale Voraussetzung für den Einstieg in ein Technologieunternehmen.
Aus einem Jahr wurden acht
Nach dem Studium in Bern und in den USA hatte der junge Sonderegger allerdings auch ganz andere Pläne. Mit dem Motorrad bereiste er verschiedenste Länder, war in Australien, Neuseeland und in Südamerika. Mehr zufällig, so quasi zur Überbrückung, nahm er im Jahr 1991 - gerade zurück von einer Südamerika-Reise - im Familienunternehmen eine Stelle als strategischer Planer an. «Wir schlossen einen Vertrag für ein Jahr ab. Doch es wurden schliesslich acht daraus, weil sich hier immer wieder eine neue Opportunität ergab, dich mich reizte», blickt Sonderegger zurück.
Im Jahr 1999 - Sonderegger war inzwischen Verkaufsleiter bei Kistler - folgte der radikale Schnitt, den der heute 47-Jährige retrospektiv so schildert: «Damals hatten wir einen familienfremden VR-Präsidenten, und dieser fand, dass ich zu wenig Performance bringe, mit der Folge, dass ich das Unternehmen verliess.»
Zwei Jahre lang war Sonderegger weg von Kistler und arbeitete als selbstständiger Unternehmensberater, bis ihn die Familie zurückholte und zum CEO machte. Es waren aussergewöhnliche Umstände, und Sonderegger spricht von einer turbulenten Zeit, die nicht nur mit der abgekühlten Wirtschaftslage des Jahres 2001 zu tun hatte.
Verantwortlichkeiten geklärt
Die Familie war mit dem externen Management uneins über die künftige Strategie und es war für Rolf Sonderegger, dessen beide Brüder bereits im Unternehmen tätig waren, ein Gebot der Stunde, jetzt die Ärmel hochzukrempeln. «Ich sagte ja, aber mit klaren Vorstellungen.» Seine Anfangszeit als CEO sei eine wilde und verrückte Zeit gewesen, getrieben von der Notwendigkeit zu handeln.
Die drei Brüder setzten sich intensiv mit der Rolle des Aktionärs auseinander und installierten ein klares Corporate-Governance-Konzept. «Es klappte zwischenmenschlich einwandfrei und wir bauten ein glasklar strukturiertes Unternehmen auf. Die Gewaltentrennung zwischen der GL und dem von Externen dominierten Verwaltungsrat ist heute ebenfalls klar», sagt Sonderegger.
Nach dem Ausstieg der Familie Kistler - Sondereggers Vater hatte das Unternehmen 1959 mit dem Ingenieur Walter P. Kistler gegründet - ist die Gruppe ausschliesslich im Besitz der Familie sowie des Top-Managements. «Früher war hier alles viel emotionaler und personenbezogener», resümiert Sonderegger, wenn er mit der Zeit vor zehn Jahren vergleicht. Heute seien die Verantwortlichkeiten geklärt. Seitens Markt sei man jetzt auf die Anwendungen ausgerichtet, wogegen man früher über ein sehr ausgefranstes Produktsortiment verfügt habe.
Im letzten Jahr keine Verluste
Wie gut das Unternehmen heute aufgestellt ist, zeigt der Umstand, dass es 2009 in der Krise trotz Abhängigkeit zu 70% von der Autoindustrie und trotz 25% Umsatzminus keine Verluste schrieb und auch keine Entlassungen ausgesprochen werden mussten. Für dieses Jahr ist Sonderegger nicht zuletzt dank Akquisitionen im Bereich Crash-Tests zuversichtlich. Einen ersten Grossauftrag über fast 20 Mio Fr. konnte man in diesem Sektor soeben in Indien sicherstellen. «Wir sind automobilabhängig und werden das auch bleiben. Denn hier sind wir stark», entgegnet Sonderegger jenen Kritikern, die eine Diversifikation als ratsam erachten.
Triftige Gründe für einen IPO sieht Sonderegger ebenfalls keine. Die Rentabilität erlaubt es, aus eigenen Mitteln über dem Markt zu wachsen. Eine Mischform mit Stimmrechten in der Hand und einer Kapitalbeschaffung am Markt ist für ihn weder Fisch noch Vogel. «Und doch können wir auch nicht fordern, auf alle Zeit ein Familienunternehmen zu bleiben. Das wäre eine Überforderung der nachkommenden Generation», findet Sonderegger, der selbst drei Kinder hat, während die beiden Brüder kinderlos sind.
Nur Unternehmen und Familie
Die Familie ist dem Vielreisenden, wie er sich selbst nennt, wichtig. So wichtig, dass er sich im letzten Jahr all seiner ehrenamtlichen Tätigkeiten wie dem Vizepräsidium in der Handelskammer oder dem Vorstand in der lokalen Standortförderung entledigt hat: «Es gibt jetzt nur noch das Unternehmen und die Familie. Mit drei Kindern zwischen 9 und 13 Jahren läuft auch zuhause so einiges.» Typisch für einen umsichtigen Familienunternehmer denkt Sonderegger langfristig. Diesbezüglich glaubt er auch, dass die Börsenkotierten von den Privaten am meisten lernen können. Natürlich seien dabei die klaren Machtstrukturen ein Vorteil.
Was nicht bedeutet, dass Sonderegger keine Kritik duldet. «Sie ist nötig und wichtig, aber man muss grundsätzlich in die gleiche Richtung denken», meint er. Er glaube, dass er dieses Unternehmen situativ führe, grundsätzlich strategisch und losgelöst von Emotionen. Kurzfristig brauche es aber Emotionen - im Umgang mit den Mitarbeitenden, im Kontakt mit den Kunden.
Firmenleitbild, ein Greuel
Schlagworte und Tools wie Firmenleitbilder und dergleichen sind Sonderegger ein Greuel. «Ich wüsste nicht einmal, wo unser Leitbild ist, falls wir überhaupt eines haben», lacht er. Amüsiert reagiert er auch, wenn man ihn fragt, wie er sich und andere motiviert: «Ich motiviere gar nicht. Jeder hat gute und schlechte Tage; wenn ich selbst einen Motivationstrainer brauche, dann kann ich grad aufhören.» Geführt werde bei Kistler über Werte und nicht über Kontrollen. «Die High Potentials, die wir suchen, ziehen wir nur an, wenn wir ein Umfeld bieten, wo sie Gas geben können», ist Sonderegger überzeugt.
Als Patron würde er sich nicht bezeichnen, zumindest nicht als einer, der sich als gemütlicher Herr um das Wohl seiner Leute kümmert und ansonsten mit eiserner Hand und an kurzer Leine führt. Und doch ist Sonderegger nicht nur das künftige Wohl des Unternehmens wichtig. Er will eine Kultur schaffen, die den 1000 Kistler-Mitarbeitenden in aller Welt Entfaltungsmöglichkeiten gibt. Innovation beizeichnet er als tragende Säule des Unternehmens, und zwar nicht nur punkto Produktentwicklung, sondern als Verpflichtung der Unternehmenskultur, sich in allen Bereichen stets weiterzuentwickeln.
Keine Zeit für Hobbys
Rolf Sonderegger ist erfri-schend ehrlich. Dazu gehört, dass er zugibt, für Hobbys eigentlich keine Zeit zu haben, und dass er dies ab und zu auch vermisst. Doch im Endeffekt dominiert bei ihm ganz offensichtlich die Freude am Unternehmertum. Und von der Familie wird er inzwischen auch als Ökonom mehr als geduldet.