Daniel Gerber ist auf der Suche nach der Zukunft. Vier Jahre lang hat er sie in Palo Alto gesucht: Als Trendscout für Swisscom, die im Silicon Valley einen Aussenposten eingerichtet hat. Der Auftrag: Zukunftstechnologien und Geschäftsmodelle für die Kommunikationsbranche entdecken. Und die Swisscom-Kollegen daheim in Bern und Zürich überzeugen, dass diese Trends schon bald auch für den Schweizer Markt relevant sein könnten.
«Das ist für uns im Prinzip eine Art Grundlagenforschung. Wir wollen verstehen, wie sich die für unser Unternehmen relevanten Technologien entwickeln und welche Geschäftsmodelle daraus entstehen könnten», erklärt Gerber.
Die Zukunft wird in den USA gemacht
Die Zukunft, sie wird noch immer in den USA gemacht. Oder zumindest wird sie hier lauter herbeigerufen als anderswo. Dortige Unternehmen beschäftigen ganze Abteilungen für Corporate Foresight. An den Universitäten können Studenten Seminare in Zukunftsforschung belegen. Sie hoffen auf eine Karriere als gut bezahlte Chief Futurists in einem der grossen Technologiekonzerne oder wollen sich einen Namen machen als Vordenker innovativer Startups und Thinktanks. Zukunftsforscher haben im Silicon Valley Kultstatus. Wenn etwa Dave Evans, bis vor kurzem Chief Futurist des Telekommunikationsriesen Cisco, nun ein eigenes Startup gründet, erwartet die Silicon-Valley-Gemeinschaft Grosses.
Auch in der Schweiz bieten Zukunftsforscher Unternehmen ihre Dienste an – als Berater und Analysten. Und auch hier beschäftigen sich Unternehmen mit der Frage, welche Trends in Gesellschaft, Wirtschaft und Technologie in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ihr Geschäft verändern werden.
Schweiz zurückhaltender
Doch Positionen wie die eines Chef-Futuristen oder ganze Abteilungen, die sich der Zukunftsforschung verschrieben haben, sucht man vergebens. «Das ist kulturell bedingt. Die Schweizer sind eben eher pragmatisch und gegenwartsbezogen», konstatiert Andreas Walker, Co-Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung Swissfuture. «Innovation, Forschung und Entwicklung gehen bei uns stark von den gegenwärtigen Kundenbedürfnissen und vom eigenen Produkt aus. Oder von diesen ausgehend auf die Entwicklung in den nächsten drei bis fünf Jahren», erklärt Walker. Klassische Unternehmensentwicklung, Produktentwicklung und Marktentwicklung eben. Von echter Zukunftsforschung könne man da nicht sprechen.
Ressourcen für Mitarbeiter bereitzustellen, die über die Zukunft in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren nachdenken, komme den meisten Schweizer Unternehmen kaum in den Sinn, sagt der Zukunftsforscher. «In vielen Schweizer Firmen fehlen im Vergleich zu den USA die grossen gestalterischen Visionen, der Blick auf die Dynamik von morgen und auf das grosse Bild gesellschaftlicher Trends.»
Schweiz führt bei Innovationsrate
Nick Zepf sieht das anders. Als Leiter der Unternehmensentwicklung des Energieunternehmens Axpo ist er dafür verantwortlich, die strategische Weiterentwicklung des Geschäftes voranzutreiben. «Schweizer Unternehmen mögen keine Zukunftsabteilungen haben oder Chef-Futuristen, die öffentliche Debatten prägen. Das heisst allerdings noch lange nicht, dass sie weniger zukunftsgerichtet sind», sagt Zepf. Schliesslich sei die Schweizer Wirtschaft weltweit führend bei der Innovationsrate und der Anzahl angemeldeter Patente.
«Tatsächlich ist aber der kulturelle Unterschied zwischen Schweizer Unternehmen und US-Unternehmen eklatant», gibt er zu. «Die US-Unternehmen sind auf langfristige Visionen ausgerichtet. Da geht es immer um den nächsten grossen Wurf, der die Welt verändert», sagt er. «Das liegt auch daran, dass die Hightech-Firmen dort besonders laut trommeln müssen, damit sie mit ihren Ideen gesehen werden und Investoren finden.» Schweizer Technologieunternehmen hingegen seien weniger abhängig von externen Investoren. Und damit sei es weniger wichtig, Forschungsaktivitäten publik zu machen, indem man sie an einzelnen prominenten Personen oder öffentlichkeitswirksamen, visionären Berichten aufhänge.
Ressourcen werden nicht in Zukunftsforscher gesetzt
Natürlich denke man aber auch bei Axpo darüber nach, wie die Welt im Jahr 2050 aussehen könnte. «Eine eigene Abteilung, die sich darüber täglich Gedanken macht, können und wollen wir uns aber nicht leisten», sagt Zepf. Bei Axpo entstehe Innovation bereichsübergreifend in den einzelnen Unternehmenseinheiten und unter Einbezug externer Experten. «Deshalb sind unsere Ressourcen besser eingesetzt, wenn ich frage: «Wo geht in den nächsten fünf Jahren technologisch die Post ab? Wie können wir da vorne dabei sein?»
Interessant sei ein Trend, wenn er technologisch machbar erscheine und neue Geschäftsmöglichkeiten biete. «Im Gegensatz etwa zur Automobilindustrie oder zur IT-Branche ist Axpo ja auch kein ‹technology shaper›, sondern ein Technologieanwender.» Gleichzeitig müsse das Energieunternehmen aber auch politische, gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen im Blick behalten, erläutert Zepf. «Da schauen wir auch mal weiter in die Zukunft.» Gemeinsam mit externen Experten, Branchenfachleuten, Ökonomen und Politikexperten hat Zepfs Team drei Szenarien für den Energiemarkt 2030 entwickelt, an denen das Unternehmen nun seine laufenden strategischen Entscheidungen ausrichtet.
Realität überholt Voraussagen immer wieder
Eindeutigere Voraussagen über die Zukunft könne man in der Energiebranche generell nicht treffen, konstatiert Zepf. Längerfristige Szenarien würden immer wieder von der Realität überholt – denn in der stark regulierten Energiebranche machen Politiker den Unternehmensstrategen immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Brennstoffzellen sind das nächste grosse Ding in der Energiespeicherung? Ja, aber zehn Jahre später als gedacht. Windkraftwerke sind nicht rentabel? Dank staatlicher Förderung sind sie es plötzlich doch.
«Wir gehen aufgrund unserer Erfahrung davon aus, dass die Zukunft ein Flickenteppich ist, der aus vielen Trends und Ereignissen zusammenwächst», sagt Zepf. «Anders als US-Unternehmen setzen wir daher nicht auf den Big Bang eines plötzlichen Entwicklungssprungs, sondern auf eine schrittweise Entwicklung.» Einen Chief Futurist brauche man für ein solches pragmatisches Zukunftsmanagement nicht, findet der Leiter der Unternehmensentwicklung. «Der Austausch mit externen Zukunftsforschern kann hingegen durchaus interessant sein. Ein Blick von aussen auf das eigene Geschäft ist immer wertvoll», sagt er. Eine pragmatische Szenarioanalyse bringe dem Unternehmen aber mehr als die aufregende Vision eines populären Futuristen.
Visionen im Silicon Valley
Bei Swisscom will man die Kultur beider Welten miteinander verbinden: Die Trendscouts sammeln auf dem Aussenposten im Silicon Valley visionäre Ideen und setzen diese dann in der Schweiz pragmatisch um. Daniel Gerber ist inzwischen zurück aus Palo Alto. Als Leiter der Abteilung New Business und Innovation in der Privatkundensparte von Swisscom in Bern soll er dafür sorgen, dass der transatlantische Ideen-Transfer gelingt. Passt ein Trend zum Schweizer Markt, geht es an die Umsetzung: Dann stossen Gerber und sein Team Kooperationen mit Startups aus dem Silicon Valley an. Und schicken Schweizer Teams aus IT, Strategie und Marketing für einige Tage oder Wochen nach Palo Alto, damit sie vor Ort mit Unternehmern und Forschern zusammenarbeiten. «Das funktioniert sehr viel besser, als den Kollegen einfach einen Trendbericht oder eine Analyse vorzulegen», sagt Berger. «Denn so bekommen sie einen Eindruck davon, dass die Trends tatsächlich schon da sind. Und lassen sich auch mal von der visionären Kultur im Silicon Valley anstecken.»