Der Tod von Carsten Schloter und Pierre Wauthier schockt die Schweiz. Inwiefern könnte ein Zusammenhang zwischen diesen Fällen bestehen?
Vladeta Ajdacic-Gross*: Aus der Ferne betrachtet ist es fast unmöglich, eine Verbindung herzustellen. Dafür ist zu wenig über die persönlichen Umstände bekannt. Allerdings ist erwiesen, dass Suizide von Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, Mitmenschen ebenfalls dazu verleiten können.
Wie gut ist dieser Zusammenhang in der Wissenschaft erforscht?
Der sogenannte Werther-Effekt ist statistisch gut belegt – in verschiedensten Kontexten. Nach einem im Fernsehen gezeigten Film in den 1980er Jahren stieg die Zahl von Suiziden von Jugendlichen in Deutschland vorübergehend nachweisbar an. In Asien wurde dieses Phänomen nach Suiziden von Prominenten dokumentiert. Ich befürchte, dass das 2013 auch für die Schweiz gilt, wenn die statistischen Zahlen dazu in zwei, drei Jahren verfügbar sein werden.
Inwiefern sind Medien für diese Entwicklung mitverantwortlich?
Die Medien stehen tatsächlich in der Verantwortung. Zum Beispiel sollte vollständig auf die Darstellung von Tatumständen, Details und Fotos verzichtet werden. Das steht im Widerspruch zu den Grundregeln des Journalismus. Im Fall Schloter hätte die Berichterstattung früher und deutlicher auf Zurückhaltung umschalten müssen.
Nimmt die Zahl von Suiziden denn zu?
Im Gegenteil: Seit den 1980er Jahren ist der Trend stark rückläufig. In der Schweiz sind die Suizidraten um bis zu 30 Prozent gesunken. Es gibt auch keine wissenschaftliche Evidenz für einen Anstieg von psychischen Erkrankungen, obwohl dies öffentlich gerne anders dargestellt wird. In der Regel steigt die Zahl von Suiziden zyklisch in wirtschaftlichen Krisenzeiten an, wenn die Arbeitslosigkeit zunimmt – so wie zurzeit in Südeuropa etwa.
Worauf sollten Menschen in ihrem persönlichen Umfeld achten?
Wenn sich Mitmenschen zurückziehen, von Schlafstörungen berichten und über Schuldgefühle sprechen, ist Hinhören und Nachfragen geboten. Das schien bei Carsten Schloter der Fall gewesen zu sein. Am Arbeitsplatz kommen Burn-Out-Syndrome und häufige Krankmeldungen als Warnsignale hinzu. Wenn jemand Todeswünsche oder Suizidgedanken äussert, ist es höchste Zeit, dies und die zugrundeliegenden Probleme direkt anzusprechen, auch mit Hilfe professioneller Unterstützung.
Wie können Manager und Arbeitnehmer selbst vorbeugen, dass psychische Probleme gar nicht erst auftreten?
Auch Menschen, die sehr intensiv in ihrer Arbeit verankert sind, sollten das Leben an mehreren Fäden aufhängen. Damit der Lebenssinn woanders gefunden werden kann, wenn mal ein Faden reisst. Die Gefahr, dass es in Beruf oder Familie zu Turbulenzen kommt, ist doch sehr gross. Da ist es wichtig, Freunde zu haben, die einem Halt geben können, und andere Tätigkeiten, die sinngebend sind.
Was kann man kurzfristig tun, wenn einem die Probleme über den Kopf wachsen?
Es ist schon mal sehr wichtig, Krisensymptome – vor allem die gefährlichen – zu erkennen. Wir stellen fest, dass vor allem ältere Männer nicht in der Lage sind, sich selbst zu beobachten und Hilfe zu suchen. Viele denken, sie seien allein mit ihren psychischen Problemen und allen anderen gehe es glänzend. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall: Die Realität sieht so aus, dass jeder Mensch im Leben früher oder später mit gravierenden psychischen Problemen zu kämpfen hat, die meisten mehr als einmal. Und dass jeder Zweite irgendwann einmal mit suizidalen Gedanken konfrontiert ist.
Es gibt also keinen Grund für Vorurteile.
Selbstverständlich nicht. Wichtig ist, dass man schwere Probleme nicht in sich reinfrisst, sondern früh genug Hilfe holt – sei es im privaten Umfeld bei Familie und Freunden oder im professionellen Umfeld.
Wo kann man sich professionelle Hilfe holen?
In der Schweiz gibt es so viele Angebote wie fast nirgends sonst in der Welt. Dies ist mit ein Grund für die Abnahme der Suizidraten in den letzten Jahrzehnten. Auf der einen Seite bestehen niederschwellige Angebote wie die Dargebotene Hand. Es gibt aber auch spezialisierte Hilfsangebote wie die Kriseninterventionszentren, die in allen grösseren Städten zu finden sind. Hinzu kommen viele therapeutische Beratungsstellen. Natürlich ist die Bedingung, dass man sich selbst bewegt, sich Zeit und vielleicht sogar eine Auszeit nimmt.
* Vladeta Ajdacic-Gross forscht als Epidemiologe mit sozialwissenschaftlichem Hintergrund am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Psychatrischen Uniklinik Zürich.