Als Gottfried Locher vor dem Jüngsten Gericht des Berner Münsters fotografiert wird, pfeift ein scharfer Wind um seine Ohren und verwirbelt seine Erscheinung von den Haaren über die Krawatte bis zu den Hosenbeinen. Durchaus ein symbolischer Akt. Denn wer sich einsetzt, setzt sich aus. Der 44-jährige Theologe mit dem vielsagenden Vornamen dürfte ein friedliches Einvernehmen haben mit Gott. Ob er allerdings auch von den Delegierten der 2,4 Mio Mitglieder seines vielarmigen Kirchenverbands konfliktlos akzeptiert werden wird, steht noch in den Sternen.

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Der Nachfolger des langjährigen Kirchenbundpräsidenten Thomas Wipf setzt sich für eine Profilierung seines Verbands ein und schärft dabei sein eigenes Profil. Schon bei der Wahl um die Präsidentschaft des Synodalrats der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn zeigte sich, dass seine Kandidatur provoziert. Auch bei der nationalen Präsidentenwahl stellten sich ihm zwei valable Kandidaten in den Weg. Locher gewann mit 20% Vorsprung.

Ist es sein strategisches Denken, das Ängste schürt? Wer den Netzwerker mit internationaler Erfahrung in Exekutive wie Legislative persönlich erlebt, entdeckt einen Humanisten, der es versteht, seine Gesprächspartner für sich einzunehmen. Den «Humanisten alter Schule» attestiert er indessen eher seinem Vater, einem Arzt und Unternehmer.

Memento mori

Mit Vater und Grossvater teilte der Sohn nicht nur den altmodischen Vornamen, sondern auch die Freude an der Leistung. In der Rückschau habe der Vater «ständig gearbeitet oder er leistete Militärdienst, während die Mutter die Drehscheibe unserer Familie war». Der Vater sei schon mit 55 Jahren verstorben. Das mache ihm die Nähe des Todes bewusst, sagt Locher: «Ich hätte nur noch elf Jahre zu leben.»

Man merkt, dass dieses Thema den routinierten Theologen mit viel Erfahrung in der Sterbebegleitung hernimmt, und ahnt plötzlich, warum er seine Besucher in einem verdunkelten Studierzimmer empfängt, das in seiner Schwere so gar nicht zum jugendlichen Mittvierziger passen will. Memento mori - hier wird über Zeit, Tod und Leben nachgedacht.

Raumhohe Bücherregale, dazwischen Kerzen, Ikonen und Post-its mit Zitaten aus der Weltliteratur inklusive Bibel prägen die Denkerstube. Als einziger Gruss an die Moderne steht mittendrin unter der einzigen Lichtquelle ein Mac. Auf dem Bildschirm reihen sich des Nachts die Buchstaben zu Predigten aneinander. Diesen Schreibprozess und das Predigen liebt Gottfried Locher so sehr, dass er auch als Präsident auf die Kanzeln der Schweiz steigen will.

War das Pfarramt ein Herzenswunsch? «Nicht unbedingt», gesteht der designierte Kirchenpräsident. «Das Theologiestudium habe ich auch der Fächer Geschichte, Philosophie und Ethik wegen gewählt.»

Es hätte auch Germanistik sein können, ist man beim Anblick von Lochers riesiger Bibliothek versucht zu sagen. Tatsächlich gibt er preis, dass er manchmal Gedichte schreibe und Rilke sein Lieblingsdichter sei. Auch Texte von Mani Matter, Kurt und Lorenz Marti gefallen ihm. Zum Nachdenken und Schreiben hält er sich gern im Kloster Einsiedeln auf, wo sogar während des Essens geschwiegen und ein Buch vorgelesen wird.

In der Pfadi fürs Leben gelernt

Woher nimmt der Poet seine Führungserfahrung? «Ich habe meine Kindheit in der Pfadi verbracht», erzählt Locher. «Nicht nur die Natur, sondern auch das Gestalten, Planen und Umsetzen von Übungen und Lagern faszinierten mich. Wo sonst kann ein Jugendlicher so viel Führungserfahrung sammeln?» Daneben absolvierte er Jugend- und Sportkurse und als logische Weiterentwicklung die militärische Ausbildung. Im Alter von 32 Jahren kommandierte er das Berner Füsilierbataillon 29.

Wie passt das alles zusammen? «Die Kombination machte durchaus Sinn», findet der Pfarrer. «Im Elfenbeinturm der Uni droht man ins Vergeistigte abzuheben. Der Militärdienst holte mich rasch wieder auf den Boden zurück.» Zudem habe er im Militär Menschen mit anderem Hintergrund kennengelernt. «Unvergesslich bleibt mir, dass ein Bauer unse- ren WK als Urlaub bezeichnete, weil er erst um halb sechs aufstehen müsse ...»

Dreisprachig predigen

Nach dem Studium übernahm der frisch verheiratete Locher die Leitung der 250 Jahre alten Schweizerkirche in London. Zum Pfarramt gehörte die Zusammenarbeit mit dem Schweizer Kulturattaché bei Konzerten und mit dem Schweizer Botschafter bei Empfängen. Da die Londoner Kirchgemeinde aus Romands, Deutschschweizern und Engländern bestand, musste er dreisprachig arbeiten.

In der Londoner Zeit hat er auch seine Führungskompetenz erweitert. «Ich wollte meine Kirchgänger besser verstehen. Viele arbeiteten als Manager in Wirtschaft und Finanz», erklärt Locher seinen Entscheid, an der elitären London Business School einen MBA-Lehrgang zu absolvieren. Dort habe er gelernt, Strategien zu formulieren und Entscheide umzusetzen, freut sich der Theologe mit internationalem Wirkungsgebiet. Kein Wunder nennt er Warren Buffett, Steve Jobs, Hayek senior und Johann Schneider-Ammann als Vorbilder.

Kirche macht glücklich

Warum ist er kein Kadermann der Wirtschaft geworden? Locher, der mit Gattin und drei Teenagerkindern in einer gigantischen Mietwohnung mit Stadtgärtchen an der Berner Herrengasse - nomen est omen - residiert, lacht entspannt und sagt: «Kirche macht glücklich. Der christliche Glaube schenkt Lebenssinn und gibt Halt in guten wie in schlechten Zeiten.» Es sei ein Privileg, in der Kirche zu arbeiten. Daher bleibe er tief in seinem Herzen Pfarrer.

Welche Erkenntnis gewann der junge Theologe in England? «Dass die Kirche lernen muss, um das Interesse der Menschen zu kämpfen. Denn eine leere Kirche erfüllt ihren Auftrag nicht.» Ohnehin sei es seine Pflicht als Pfarrer, spannende Predigten zu schreiben. «Es muss sich für die Kirchgänger lohnen, am Sonntag früh aufzustehen.»

Die reformierten Gottesdienste seien oft zu kopflastig, kritisiert Locher seinen Berufsstand. «Wir sollten in der Liturgie alle fünf Sinne des Menschen bedienen: Neben dem Hören auch das Sehen, Fühlen, Riechen, Schmecken.» So wie andere Religionen dies tun, Herr Locher? Er wehrt jeden Verdacht religiöser Gleichmacherei ab. «Der interreligiöse Dialog dient primär dem Religionsfrieden in der Schweiz.»

Darum habe auch seine Toleranz Grenzen: «Wo ich Gleichgültigkeit erlebe, setze ich mich dezidiert für das Christentum ein.» Glaube sei keineswegs Privatsache: «Ein Pfarrer hat einen klaren Auftrag: Die Verkündigung in Wort und Tat. Wir alle stehen in der Nachfolge Jesu Christi!» Am falschen Trend zur institutionellen Gesichtslosigkeit sei die Kirche allerdings selber schuld. Als Präsident wolle er deshalb zu einer besseren Erkennbarkeit beitragen.

Eine klare Mission verfolgen

Kann ein aktiver Pfarrer religiöse Werte vertreten und gleichzeitig einen Verband repräsentieren? «Ich erwarte Widerstand», verrät Gottfried Locher. «Gegenwind bin ich indessen gewohnt.» Umso wichtiger sei der Kontakt mit der Kirchenbasis. Zum Beispiel beim wöchentlichen Spaziergang zum Bärengraben, wo sich Locher jeweils eine Weisswurst mit Bier gönnt.