Als Martin P. (Name geändert) die Kündigung erhalten hatte, fiel er zuerst aus allen Wolken und danach schnurstracks in eine tiefe Depression. Sein Hausarzt schrieb ihn in der Folge für fünf Wochen krank. Wodurch sich die Kündigungsfrist um ganze zwei Monate verlängerte.
Fast jeder kennt inzwischen einen oder eine, der oder die nach der Kündigung eine gewisse Zeit krank war. Manche zu Recht, andere aus Berechnung. Selbst ganze gekündigte Teams sollen von Krankheitsschüben heimgesucht worden sein. Offenbar ist es ein Leichtes, vom Hausarzt ein entsprechendes Arbeitsunfähigkeitszeugnis zu bekommen.
Ruth Derrer Balladore, die Ressortleiterin Arbeitsrecht beim Schweizerischen Arbeitgeberverband in Zürich, bestätigt den Verdacht: «Das wird immer mehr zu einem Problem. Eine Erhebung haben wir zwar nicht durchgeführt, aber alle sagen dasselbe: Kaum wird jemandem gekündigt, schon ist er krank.» Ganz so krass ist die Lage wohl nicht: Bloss jeder zehnte Gekündigte meldet sich während der Kündigungsfrist krank, wie Nachfragen ergeben. Doch davon dürfte schätzungsweise jeder zweite Fall zumindest fragwürdig sein.
Die Hemmschwellen sinken
«Das Verhältnis zur Krankheit hat sich gewandelt», stellt Ruth Derrer Balladore fest. Nicht nur gehe man heute schneller zum Arzt, auch seien gewisse Krankheiten wie Burnout salonfähig geworden. Während man früher zum Psychiater gegangen sei, nenne man es heute «persönliches Coaching». So sei auch die Hemmschwelle niedriger geworden, sich nach einer Kündigung krank zu melden. Kranksein gilt nicht als Makel, gekündigt sein dagegen schon. «Bei jedem, der unmittelbar nach der Kündigung krank wird, muss deshalb davon ausgegangen werden, dass er die gesetzlichen Möglichkeiten missbraucht», sagt Ruth Derrer Balladore unmissverständlich.
Diese gesetzlichen Möglichkeiten sehen folgendermassen aus: Wer vom Betrieb die Kündigung erhalten hat und während der Kündigungsfrist erkrankt, verunfallt oder Militärdienst leistet, dessen Kündigungsfrist verlängert sich um die Dauer der Sperrfrist. Beispiel: Erkrankt jemand während der Kündigungsfrist für fünf Tage, so verlängert sich die Kündigungsfrist um fünf Tage. Weil der Kündigungstermin in der Regel auf den letzten Tag eines Monats fällt, verlängert sich das Arbeitsverhältnis insgesamt aber um einen ganzen Monat. Wird ein Arbeitnehmer mehrmals krank, so beginnt immer wieder eine neue Sperrfrist zu laufen.
Die Sperrfristen betragen im ersten Dienstjahr maximal 30 Tage, vom 2. bis 5. Jahr 90 Tage, und ab dem 6. Dienstjahr maximal 180 Tage. Das funktioniert jedoch nur, wenn vom Arbeitgeber gekündigt worden ist, übrigens auch bei sofortiger Freistellung. Hingegen gibt es keine Sperrfristen, falls der Arbeitnehmer selber kündigt.
Zum Verdacht der missbräuchlichen Krankheiten sagt auch Urs Meier, der Geschäftsführer der Schweizer Kader Organisation SKO, ganz klar: «Das ist teilweise eine Form der Rache am Arbeitgeber.» Doch er schränkt sogleich ein: «Das hat es schon immer gegeben und wird es auch immer geben. Das ist eher abhängig von der persönlichen Situation als von der wirtschaftlichen Lage.»
Rache deshalb, weil der Arbeitgeber trotz einer bestehenden Krankentaggeldversicherung zur Kasse gebeten wird. Denn die Versicherung zahlt erst nach 15 oder häufiger sogar erst nach 30 Tagen Krankheit und auch dann nur die effektiven Krankentage und nicht auch die restlichen Tage der verlängerten Kündigungsfrist.
Auch echte Fälle nehmen zu
Doch es muss auch gesagt werden: Nicht nur aus niedrigen Beweggründen greifen Gekündigte zum Strohhalm der Krankheit. Oftmals werden Betroffene durch eine Kündigung - besonders wenn sie überraschend kommt oder als unfair empfunden wird - vollkommen aus der Bahn geworfen und sind in der Tat eine Zeit lang arbeitsunfähig. In zahllosen Betrieben arbeiten zudem Menschen, die sich nach bestem Wissen und Gewissen schon lange krankschreiben lassen könnten - es aber aus Angst, ihren Job zu gefährden oder aus Loyalität nicht tun. Nach erfolgter Kündigung durch den Arbeitgeber nutzen sie nun die Gelegenheit, ihre «wohlverdienten» Krankentage einzuziehen.
Mehr noch: Gekündigte müssen eine bestehende Krankheit sogar zwingend geltend machen. Die Arbeitslosenversicherung zahlt nämlich keine Taggelder, solange noch Ansprüche auf Lohn bestehen. Es ist also möglich, dass die Arbeitslosenversicherung dem Arbeitslosen vorwirft, seine ihm gesetzlich zustehenden Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber nicht genügend wahrgenommen zu haben - und die Taggelder kürzt.
«Echte Krankheitsfälle gibt es in der Krise sicher mehr als in der Hochkonjunktur - wegen der zunehmenden Belastung durch Unsicherheit, vor allem in den Dienstleistungsbranchen», beobachtet Urs Meier von der SKO. Ruth Derrer Balladore vom Arbeitgeberverband hingegen führt die Zunahme der Krankheitsfälle darauf zurück, dass in der Dienstleistungsbranche schwer kontrollierbare psychische Faktoren leichter vorgeschoben werden können: «Auf dem Bau ist eher klar, wer wirklich krank ist.»