Bei Manfred Thumann geht beinahe alles. Mitarbeitende, die stehen bleiben, haben es schwer beim Chef der Nordostschweizerischen Kraftwerke (NOK). «Wir sind nicht auf der Welt, um zu verwalten, sondern, um zu gestalten und Neues zu schaffen», sagt der 53-Jährige. Er fordert viel von seinen Kollegen. «Was abgemacht ist, wird durchgezogen», sagt ein ehemaliger NOKler. Und zwar zügig. Was bei den einen als zielorientiertes Arbeiten ankommt, nennen andere «Hüst und Hott»-Politik.
Jetzt, wo der Strommarkt liberalisiert wird, wo man nicht mehr nur verwalten darf, sondern gestalten muss, sind die Ansprüche gestiegen. «Ich sage: Neuer Markt, neue NOK. Ich will das Unternehmen neu erfinden. Bewährtes aber erhalten», sagt Thumann.
Er kam 2003 vom internationalen Industriekonzern Alstom in ein lokales Unternehmen, in öffentlicher Hand. Und in einen monopolistischen Markt. Von Bewegung war wenig zu spüren, ebenso wenig existierten Kunden, die Preise zahlen. In der Strombranche sprach man von Bezügern, die Gebühren beglichen. Thumann, von Weggefährten als «integer und fair» beschrieben, sagt zu seiner Ankunft bei der NOK: «Ich war angenehm überrascht, wie wirtschaftlich das Unternehmen geführt wird, wie eine börsenkotierte Firma.» Von aussen – als Strombezüger – hatte er eher den Eindruck eines Beamtenladens gehabt.
Der Macher, der auch die Chance gehabt hätte, Universitätsprofessor zu werden, löste Ende der 1990er Jahre die technischen Probleme der damals neuartigen Gasturbinen bei ABB, bis der Bereich 2001 an Alstom verkauft wurde. Wenig später musste er allerdings gehen. «Jetzt wird der Entwicklungschef gefeuert», titelte damals die «Mittellandzeitung». «Davor ist kein Manager gefeit. Wenn man sich davon zu sehr beeindrucken lässt, hat man als Führungsperson bereits verloren», kommentiert er.
Für den heutigen NOK-Chef war die erzwungene Veränderung der Startschuss für einen neuen Lebensabschnitt – er wurde bei der Axpo-Tochter Leiter der Division Kernenergie. Seit Oktober 2007 hat er den NOK-Chefposten von Heinz Karrer übernommen, der sich seither auf die Führung der Axpo Holding konzentriert.
Wohnen im Bauernhaus – mit Öl
Thumann wohnt mit seiner Frau und dem dreijährigen Sohn 9 km abseits vom Arbeitsort Baden in einem 1990 renovierten Bauernhaus. Mit Ölheizung. «Das ist nicht besonders toll», gibt Thumann zu, «bei der Wärmeerzeugung fossile Brennstoffe zu verwenden, ist out. Eine Wärmepumpe würde mich interessieren.» Der Boom bei den Wärmepumpen kann den Stromproduzenten nur recht sein. Thumann relativiert: «Unser grösstes Problem heute ist die Frage: Können wir den Versorgungsauftrag erfüllen, oder laufen wir in eine Situation hinein, in der wir plötzlich Strom rationieren müssen?»
Um Versorgungsengpässe zu verhindern, baut die NOK in der Schweiz die Kraftwerkskapazitäten aus: Wasserkraft, neue erneuerbare Energien. Und Kernkraft – falls das Volk dereinst zustimmen wird. Für Letzteres braucht es noch viel Überzeugungsarbeit. Dem Ingenieur dürfte dies leicht fallen. Geschäftspartner, Konkurrenten, frühere Weggefährten und heutige Kollegen bezeichnen Thumann einstimmig als «ausgezeichneten Kommunikator». Auch jene, die seine Idee – den Bau eines neuen Kernkraftwerks (KKW) – nicht teilen.
«Er ist ein gewiefter Kommunikator, das macht ihn gefährlich, aber nicht glaubwürdiger», sagt Jürg Buri, Geschäftsführer der Schweizerischen Energie-Stiftung (SES). Wenn es um die Frage geht, ob die Schweiz ein neues Kernkraftwerk braucht oder nicht, sei Kommunikation wichtiger als Physik und Ökonomie. Buri ist überzeugt, dass die Schweiz – würde sie mehr in neue erneuerbare Energien investieren und die Stromeffizienz fördern – «kein neues AKW braucht». Zwei der vier Energieperspektiven des Bundes und Passagen einer UBS-Studie würden diese Sicht unterstützen.
Unlogik bereitet Thumann Mühe
Für Thumann sprechen die Fakten «klar für ein neues KKW»: «Energieeffizienz ist gut, wird aber nicht ausreichen für eine gesicherte Stromversorgung», kontert Thumann. Das Potenzial der erneuerbaren Energien im Jahr 2030 betrage 6% des prognostizierten Stromverbrauchs. Szenarien der Energieperspektiven 2035 des Bundes und eine Studie des Branchenverbands VSE kämen zu ähnlichen Zahlen.
«Nicht nachvollziehbare Argumente» sind es, die ihn auf die Palme bringen. «Da spricht der Ingenieur in mir. Für mich ist es schwierig, mit Unlogiken umzugehen. Wenn ich weiss, dass Argumente gedrechselt werden, weil man eine politische Absicht hat, oder gezielt knapp an der Wahrheit vorbei argumentiert, um eine Wirkung zu erzielen – da muss ich schlucken und Luft holen, um angemessen reagieren zu können.» Hat er die Wahrheit für sich gepachtet? «Nein!» Er nehme die Argumente und das Befinden der KKW-Gegner ernst. «Ich habe Verständnis, wenn sich jemand Sorgen macht, weil er etwas nicht kennt. Die Wahrnehmung ist eine Realität.»
Branchenkollegen attestieren Thumann grosses Fachwissen: Er wisse, wovon er spreche. Blender meidet der Manager, der sein erstes Taschengeld als Posaunist in der Jugendblaskapelle verdient hat. Er scheut sich nicht, sich zu exponieren und schätzt auch Drittmeinungen – er hat sich auch schon von Beratern und Mitarbeitern beurteilen lassen.
Kritiker vergleichen seine Haltung mit dem berühmten Fähnchen im Wind oder sprechen von Biegsamkeit. Ein ehemaliger Kollege aus der Alstom-Zeit ergänzt: Thumann stehe oft auf der vorsichtigen Seite, sei nicht sehr risikofreudig. Die Vorsicht ist heute Thumanns Trumpf – auch wenn sein Hobby der Motorsport ist. Als Oberverantwortlicher der beiden Kernkraftwerke Beznau und Leibstadt hat er die nukleare Sicherheitscharta entwickelt. Jeder Mitarbeiter der KKW Leibstadt und Beznau I und II, vom Abwart bis zum VR, muss sich bewusst sein, welche Verpflichtung er trägt.
Sein Sinn für Humor kommt an
Trotz Zwölf-Stunden-Arbeitstagen vergisst Thumann nicht, Mensch zu sein. Er ist einer zum Anfassen. Es kommt schon mal vor, dass der Bayer bei einem Kaderausflug seine Frau, die ebenfalls Motorsportlerin ist, und den Sohn mitnimmt. Oder dass er mit einem motorradbegeisterten Arbeitskollegen eine Ausfahrt macht.
Und Walter Nef, kürzlich pensionierter Leiter des Kernkraftwerks Beznau, erinnert sich an die Rede, die sein Chef Thumann beim Abschiedsapéro für ihn gehalten hat: «Er hat meinen Sinn für Humor erkannt und aufgenommen und in Videopassagen den bayerischen Kabarettisten Karl Valentin reden lassen. Es war bewegend.» Und typisch für Thumann.
Seit 1989 lebt der Bayer in der Schweiz, seit 2001 ist er auch Schweizer Bürger. Schweizerdeutsch spricht das Lions-Club-Mitglied aber nicht. «Verstanden habe ich den Dialekt schnell, aber sprechen werde ich ihn wohl nie können. Daher bleibe ich lieber beim Bayerischen.»
Obwohl Deutsche bei vielen Schweizern auf Skepsis stossen, kann sich Thumann an kein Negativerlebnis erinnern. «Die bayerische Denkweise ist der schweizerischen anverwandt, das hilft wohl», sagt er und lacht.
Abwägen und den Konsens suchen – diese typisch schweizerischen Eigenschaften wird der NOK-Chef brauchen, um die Herausforderungen der Marktöffnung und der künftigen Stromversorgung zu meistern. Der Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx könnte ihm dabei helfen: Thuman liest zurzeit «Anleitung zum Zukunftsoptimismus. Warum die Welt nicht schlechter wird.»