Wer kennt ihn nicht, den Microsoft-Gründer und Milliardär Bill Gates, dessen unkonventionelle Ideen die Computerwelt auf den Kopf gestellt haben. Nur wenige wissen jedoch, dass der brillante Informatiker - schon mit 14 Jahren ein Mathegenie und leidenschaftlicher Programmierer - das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom hat. Sein Werdegang verlief unkonventionell: Der heute 53-Jährige schmiss das Studium für seine Garagenfirma und führte diese zum Weltkonzern, indem er ein gekauftes Betriebssystem zum System aller Computer machte.
Bill Gates gilt als prominenter Betroffener eines Syndroms, mit dem mindestens 5% der Erwachsenen leben. Oft unbewusst: «Viele Menschen wissen nicht, dass sie ADHS haben», sagt Corinne Huber, ADHS-Coach in Basel. Das «Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom mit oder ohne Hyperaktivität» - kurz ADHS - wird seit einigen Jahren in den Medien intensiv behandelt. Doch wird die Thematik - meist auf Kinder beschränkt - häufig einseitig, plakativ oder reisserisch dargestellt, mit ideologischen Scheuklappen angegangen, etwa als Erfindung und «Lieblingssyndrom» der Pharmabranche taxiert oder aber der erzieherischen Unfähigkeit von Eltern zugeschrieben. Weit gefehlt: ADHS ist keine Willens-, Haltungs- oder Erziehungskrankheit. Vielmehr handelt es sich um eine vererbbare Störung der Informationsverarbeitung in bestimmten Hirnregionen, verursacht durch einen genetisch bedingten Mangel beim Botenstoff Dopamin. Entgegen der landläufigen Meinung wächst sich das Syndrom im Erwachsenenalter nicht automatisch aus. Bei rund der Hälfte der betroffenen Kinder setzen sich die Symptome im Erwachsenenalter fort.
Intensität mit Schattenseiten
In Schulzimmern, auf Bühnen, in Büros und auf Chefsesseln agieren unzählige Frauen und Männer mit ADHS. Der temperamentvolle Manager mit den ausgefallenen Ideen, der rastlose, visionäre Chef mit der gar nicht geradlinigen Karriere, die zerstreute Professorin, welche sich in hundert Details verliert - sie alle könnten ADHS haben. Vielfach führen diese Menschen ein intensives, farben- und facettenreiches Leben, nehmen neugierig und reizoffen wahr, wirken fantasievoll, ideenstark, spontan, pionierhaft. «Viele ADHS-Menschen haben herausragende Stärken wie Mut, hohe Leistungsfähigkeit, Spontaneität und Durchsetzungsvermögen», hält Corinne Huber fest (siehe «Nachgefragt»). Die intensive Lebensweise kann allerdings Schattenseiten bergen: Aufgrund ihrer mangelhaften Informationsverarbeitung können Betroffene Anpassungsprobleme haben, die sich in unserer reizüberfluteten, leistungsorientierten, schnelllebigen Welt verschärfen.
Dazu Corinne Huber: «Es fällt auf, dass wir in einer Zeit erhöhten Leistungsdrucks, zunehmender Personalreduktion und einer Beschleunigung der Zeit leben. Menschen mit ADHS haben es zusätzlich schwieriger, weil sie sensitiver auf diese Umstände reagieren.»
Mangelhafte Selbststeuerung, Impulsivität, verminderte Aufmerksamkeit, Ablenkbarkeit bilden Kernsymptome. Allzu schnell gelten Betroffene als unzuverlässig, unmotiviert, unreif, werden gerügt oder gemobbt. Manche wechseln häufig die Stelle, betätigen sich in ständig neuen Berufen, nützen ihr berufliches oder intellektuelles Potenzial zu wenig aus.
Gefangen in einem Teufelskreis aus Labilität und Frust, der seinen Anfang manchmal in schwierigen Kindheits- und Schulerlebnissen nimmt, laufen sie Gefahr, ihr Selbstwertgefühl zu verlieren und an sich selbst zu erschöpfen.
Strukturen und Coaching zentral
Dieser Negativspirale hält Corinne Huber die positiven Seiten entgegen - sie thematisiert lieber die Stärken: «Es ist mir ein grosses Anliegen, das Thema ADHS und die betroffenen Menschen unter ressourcenorientierten Gesichtspunkten zu beleuchten. Wir dürfen Jugendlichen mit ADHS die Aussicht auf gute Lehrstellen und in der Folge die Chance auf gute Arbeitsplätze nicht verbauen!»
In erster Linie setzt sie auf gründliche Information, geeignete, da gut strukturierte Arbeitsbedingungen und verständnisvolles Coaching. «Es ist eine grosse Hilfe, wenn ein Arbeitsumfeld klar strukturiert und berechenbar ist, die Mitarbeiter einander optimal ergänzen und soziale Verhaltensweisen bis in die Führungsspitze hinauf achtsam reflektiert werden.» So «können Betroffene ihr Potenzial voll entfalten und dabei sogar manchmal «die anderen» überflügeln». Auch wenn nicht jeder Mensch mit ADHS ein Bill Gates sein kann ...
NACHGEFRAGT Corinne Huber, Praxis für Coaching & ADHS-Beratung, Basel
«ADHS-Betroffene können begnadete Führungskräfte sein»
Warum kommen die Stärken von ADHS-Personen trotz enormer Willenskraft und hoher Kreativität im Beruf oft nicht zum Tragen?
Corinne Huber: ADHS-Betroffene haben herausragende Stärken: Begeisterungsfähigkeit, Mut, hohe Leistungsfähigkeit, Durchsetzungsvermögen, Flexibilität, Entschlossenheit, Spontaneität, Humor. Jedoch sind Handlungsplanung, Selbststrukturierung und Zeitmanagement besonders bei monotonen Tätigkeiten oder bei einem Übermass an Leistungsdruck schwieriger zu regulieren.
Welche Berufe eignen sich für Betroffene, welche eher nicht?
Huber: Es spielt keine Rolle, welchen Beruf ein Mensch mit ADHS wählt. Wichtiger ist, dass die Arbeit nicht zu monoton ist, damit der Betroffene die benötigte Aufmerksamkeit aufrechterhalten kann. Besonders wichtig ist, dass ein Arbeitsumfeld gut strukturiert, aber nicht einengend ist und Achtsamkeit im Umgang mit den Mitarbeitern gepflegt wird. Es gibt Menschen mit ADHS, die durch ihre Sensitivität besonders gut mit anderen umgehen können. Es gibt Betroffene, welche hervorragende Führungspersönlichkeiten sind. Andere sind sprachlich, technisch oder künstlerisch begabt. Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit sind gute Multitasker.
Wie soll man mit schwierigen Betroffenen im Büro umgehen?
Huber: Nicht alle Personen, die ein problematisches Verhalten am Arbeitsplatz aufweisen, haben ADHS! Führungspersonen und Personalleiter sollten über das Erscheinungsbild des Syndroms fundiert und ressourcenorientiert informiert sein, um geeignete Rahmenbedingungen schaffen zu können. Wenn diese mit dem Betroffenen abgesprochen werden und Mobbing keinen Nährboden findet, kann ein Mensch mit ADHS hochmotiviert und in Dankbarkeit seine Fähigkeiten voll einbringen und sogar über seine Grenzen hinauswachsen. Wenn es trotz guten Arbeitsbedingungen zu Problemen kommt, empfiehlt sich ein Coach oder therapeutische Begleitung, was oft schon Wunder wirkt. Viele betroffene Menschen wissen gar nicht, dass sie ADHS haben. Sie fallen erst auf, wenn ihre Kompensationsstrategien (Perfektionismus, Überstunden) nicht mehr genügen oder wenn sie Begleiterkrankungen (Sucht, Depression) entwickelt haben.
Wie kann man einem Chef mit ADHS begegnen?
Huber: Dass ein Chef ADHS hat, muss nicht zwingend sichtbar sein! Betroffene, die meist kreativ und visionär sind und eine sehr gute Intelligenz, Durchhaltewillen und ein gutes Gespür für erfolgversprechende Richtungen auf dem Arbeitsmarkt aufweisen, können begnadete Führungspersönlichkeiten sein. Solche Menschen sind direkt und emotional. Bewährt hat sich eine offene, berechenbare, verbindliche, achtsame und klare Kommunikation.
Problematisch für Arbeitsnehmer wird es erst dann, wenn ein Chef mit ADHS auch noch chaotisch und aggressiv-impulsiv veranlagt ist, kein Einfühlungsvermögen hat und nicht führen kann.