Der ehemalige UBS-Chef Oswald Grübel gehört nicht zu den Leuten, die sich gerne dreinreden lassen. «Er macht es einem schwer, neben ihm zu leuchten», sagt einer, der ihn im Tagesgeschäft erlebt hat. Und genau so, wie Grübel seinen Untergebenen Mühe bereitet hat, hatte er selbst Mühe mit den eigenen Vorgesetzten, den Verwaltungsräten. «Ich habe schon vor zehn Jahren erklärt, dass bei uns Verwaltungsräte überschätzt würden», betonte Oswald Grübel kürzlich im Interview mit der «Handelszeitung». «In der Schweiz gibt man dem Verwaltungsrat zu viel Verantwortung oder, besser gesagt, erlaubt ihm, sich zusätzliche Verantwortung zu geben.»
Das Hauptproblem hat Grübel schnell eruiert. Da Verwaltungsräte sowieso nur das kontrollieren können, was sie verstehen, und die Geschäfte immer komplexer würden, sei es ein Einfaches für die Geschäftsleitung, den Verwaltungsrat zu umgehen. Damit will Grübel wohl nichts weniger sagen, als dass eine starke Geschäftsleitung einen schwachen Verwaltungsrat nach Gutdünken manipulieren kann.
«Man kann ihm das Geschäft noch etwas komplexer darlegen, sodass er es garantiert nicht versteht. Kaum jemand in so einem Gremium wird sagen: ‹Oh, ich verstehe das nicht.› Das habe ich in meinem ganzen Berufsleben nie erlebt. Eher sagt man: ‹Hm, ja, ja›, schildert Grübel seine Erfahrungen.
Die Lösung des Problems liegt für Grübel auf der Hand. «Das ganze System ist überaltert. Es muss reformiert werden.» Der Banker fordert die Entmachtung des obersten Aufsichtsgremiums. «Wir sollten den Verwaltungsrat darauf beschränken, die Geschäftsleitung zu bestimmen.»
Die Experten wehren sich
Solch harsche Worte wecken Widerstand. Peter V. Kunz, Professor für Wirtschaftsrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Bern, wehrt sich für den Berufsstand der Verwaltungsräte. «Den Verwaltungsrat darf man nicht entmachten. Wenn die Macht abgeschafft wird, geht sie deshalb nicht an die Generalversammlung, sondern ans Management, das noch stärker wird. Das wäre falsch für die Gesellschaft.»
Silvan Felder, Inhaber und Geschäftsführer der Verwaltungsrat Management AG in Luzern, sieht ebenfalls die Gewaltentrennung in Gefahr. «Insbesondere dominante und machtbeanspruchende Persönlichkeiten in der Chef-Funktion bei Publikumsgesellschaften brauchen zwingend ein Verwaltungsratsgremium als Sparringpartner und Kontrollorgan. ‹Checks and Balances› heisst die Losung. Alleinherrschaft über eine Unternehmung, welche notabene nicht im Besitze der entsprechenden Person steht, ist ein No-Go.»
Philippe Hertig, Geschäftsführer von Egon Zehnder International in Zürich, bekräftigt dies. «Den Verwaltungsrat auf die Bestimmung der Geschäftsleitung zu reduzieren, würde der Diktatur auf CEO-Ebene die Türen öffnen.»
Was wohl durchaus im Sinne des Erfinders Grübel wäre. Und doch scheint Grübel mit seiner Kritik an den Verwaltungsräten recht zu haben. Fredmund Malik, Gründer und Leiter des gleichnamigen Managementzentrums in St. Gallen, fühlt sich jedenfalls bestätigt. «Oswald Grübel hat in den wesentlichen Punkten des Funktionierens des Organs ‹Verwaltungsrat› recht. Er kommt mit seiner Erfahrung zu denselben Schlüssen, die bereits seit Mitte der 1990er-Jahre in meinen Büchern stehen.»
Selbst Kunz räumt ein, dass die Kritik Grübels nicht aus der Luft gegriffen ist. «Allerdings ist es kein strukturelles Problem, wie Grübel unterstellt, sondern ein Personenproblem», sagt der Wirtschaftsrechtsprofessor. Für ihn müsste das Anforderungsprofil für einen Verwaltungsrat völlig anders sein, als es gehandhabt wird. Heute gebe es absolut keine persönlichen Voraussetzungen für einen Verwaltungsrat. «Er muss eben nicht nur Fachwissen haben, sondern vor allem Rückgrat und Zeit», betont Kunz. «Die Überforderung ist zeitlich und charakterlich, nicht fachlich.»
Silvan Felder hingegen zweifelt auch an der fachlichen Qualifikation der amtierenden Verwaltungsräte. «Es gibt nach wie vor zu viele Verwaltungsräte, die nicht auf der Höhe der heutigen fachlichen und zeitlichen Anforderungen sind.» Zudem sei die Zusammensetzung vieler Gremien in der Schweiz nach wie vor ungenügend, was die Kompetenzen, die Diversität beziehungsweise die Komplementarität der Mitglieder anbelange. «Die Auswahl und Rekrutierung muss zwingend weiter professionalisiert werden. Eine Ansammlung vermeintlich grosser Namen ist definitiv kein Erfolgsgarant», sagt Felder.
Kaum Zeit für Kritik
Demnach ist es naheliegend, dass das Ungenügen vieler Verwaltungsräte einem machthungrigen und zielstrebigen Geschäftsführer erlaubt, sein eigenes Süppchen zu kochen und den Verwaltungsrat zu umgehen. «Da hat Grübel schon recht. Weil eben die Zeit fehlt, um kritische Fragen zu stellen», sagt Kunz.
Wie viel Zeit ist denn nötig, um ein Verwaltungsratsmandat anständig zu erfüllen? «Das lässt sich nicht per Verordnung regeln», meint Kunz, «doch wenn jemand schon Geschäftsleitungsvorsitzender in einem börsenkotierten Grossunternehmen ist, dann ist es meines Erachtens völlig unhaltbar, wenn er auch noch Verwaltungsrat in einer anderen SMI-Firma ist – vom Präsidium ganz zu schweigen. So was sollte im Arbeitsvertrag eines CEO verboten werden.»
Felder bringt zusätzlich die Argumente der Eitelkeit und der Angst ins Spiel, weshalb ein starker Chef das Zepter fest in der Hand halten kann – trotz Aufsicht. «Nach wie vor getrauen sich zu viele Verwaltungsräte nicht, nachzufragen, wenn sie mit Sachverhalten und Entscheidungstraktanden konfrontiert werden, die sie nicht verstehen. Ihr Motto lautet «Lieber keine Frage, als sich selber möglicherweise blosszustellen». Diese Denkhaltung sei definitiv falsch.
Erschwerend kommt die Abhängigkeit vom Verwaltungsratshonorar dazu, die fehlende Unabhängigkeit. «Da denken sich einige, lieber mal eine kritische Frage nicht stellen, statt möglicherweise das Mandat aufs Spiel zu setzen.»
Übers Ziel hinausgeschossen
Grübel scheint somit recht zu haben mit seiner Fundamentalkritik, obschon er bei der «Lösung» – der Entmachtung und der Forderung nach einer grundlegenden Reform – übers Ziel hinausschiesst. «Das schweizerische duale System ist überhaupt nicht veraltet, sondern durchaus State of the Art, auch im internationalen Vergleich. Auch das deutsche Zweikammersystem ist nicht moderner, nur anders», argumentiert Kunz.
Selbst Corporate-Governance-Kritiker Malik redet nicht der Alleinherrschaft des Geschäftsführers das Wort. «Das einstufige System ist eine klare Fehlkonstruktion. Es funktioniert nur dort, wo man wirkliche Ausnahmekönner als CEO hat, weil diese die Funktionsmängel durch persönliche Kompetenz ausgleichen können.»
Doch solche sind selten – noch viel seltener als Ausnahme-Verwaltungsräte. Denn diese sind zumindest nicht allein, sondern funktionieren als Gremium. «Es stimmt, dass die Komplexität der Geschäfte zugenommen hat. Folglich werden an Verwaltungsräte auch höhere Anforderungen gestellt. Entscheidend sind aber nicht nur die Fähigkeiten des einzelnen Verwaltungsrates, sondern die Kompetenz und Ausgewogenheit des gesamten Gremiums», erklärt Hertig von Egon Zehnder. Er fordert, dass die Effektivität des Verwaltungsratsgremiums jährlich zu analysieren sei. Und auch der Beitrag eines jeden einzelnen Verwaltungsrats sei regelmässig zu checken.
Um die Qualität der Verwaltungsräte zu steigern, schlägt Rechtsprofessor Kunz das kumulative Wahlrecht vor, wie es in den USA gehandhabt wird. Dadurch könnten die Mitsprachemöglichkeiten von Minderheitsaktionären verbessert werden. Hat heute bei der Wahl von fünf neuen Verwaltungsräten jede Aktie bei jeder Person je eine Stimme, so könnten durch den Systemwechsel die fünf Stimmen kumuliert werden auf eine Person. «Das wäre sinnvoll, wenn auch nicht im Sinn von Grübel», sagt Kunz und bringt gleich noch einen unkonventionellen Vorschlag ins Spiel, um die Qualität des Verwaltungsratsgremiums zu steigern: «Warum nicht mal einen Performancekünstler oder einen Schriftsteller in einen UBS-Verwaltungsrat wählen? Der könnte jemanden mit 30 Jahren Bankerfahrung locker ausstechen, da er weniger betriebsblind ist.»