Die starken Kursverluste von Aktien seit Jahresbeginn sind eher auf sinkende Bewertungen als auf einen Rückgang der Gewinnerwartungen zurückzuführen. Die Geschichte zeigt, dass eine vorübergehende Abkopplung zwischen Wirtschaftswachstum und Gewinnwachstum nicht ungewöhnlich ist.
Das Gewinnwachstum beschleunigte sich beispielsweise weiter, als sich die Wirtschaft im Zuge der Dotcom-Pleite 2001 und der globalen Finanzkrise 2008 schon verlangsamte. Dieser Trend hielt jedoch nur wenige Monate an.
Ein genauerer Blick auf die globalen Branchen hilft, einen Teil der Widerstandsfähigkeit der Gewinnerwartungen in diesem Jahr zu erklären. Steigende Energiepreise und der Anstieg der Nachfrage nach Öl haben dazu geführt, dass die Erwartungen für das Gewinnwachstum des globalen Rohstoffsektors um gewaltige 60 Prozentpunkte angehoben wurden.
Generell waren Rohstoffunternehmen die Nutzniesser der inflationären Entwicklung der letzten Monate. Umgekehrt wurden die Gewinnerwartungen der Konsumunternehmen um mehr als 10 Prozentpunkte gekürzt, da die Befürchtungen eines Rückgangs der verfügbaren Einkommen der Verbraucherinnen und Verbraucher zunahmen.
Tilmann Galler ist globaler Kapitalmarktstratege bei J.P. Morgan Asset Management.
Die Gewinnerwartungen sind nahe dem Höchststand. Das Verhältnis der Gewinnrevisionen – ein Mass für die Anzahl der Heraufstufungen im Vergleich zu den Herabstufungen durch Analystinnen und Analysten – nähert sich dem negativen Bereich. Es ist vielleicht nicht überraschend, dass die Markterwartungen einige Zeit brauchen, um sich an die Realität anzupassen, denn Analysten und Analystinnen extrapolieren Wachstum gern linear in die Zukunft.
Zahlreiche «Covid-19-Gewinner» mussten jedoch von einer schwächeren Nachfrage berichten, da die Verbraucher und Verbraucherinnen zu ihren alten Gewohnheiten zurückkehren. Die Gewinne der Pandemie-Gewinner wurden also systematisch überschätzt, weshalb die Gewinnerwartungen jetzt nach unten revidiert werden.
Der seit Jahresbeginn verzeichnete Rückgang bei den Aktien der Industrieländer scheint nun ein Ausmass an Gewinnrückgängen einzupreisen, die während milder Rezessionen in der Vergangenheit erlebt wurden. Doch wie umfangreich werden die Gewinnherabstufungen diesmal sein? Die Widerstandsfähigkeit der Unternehmensmargen ist entscheidend.
Konsumunternehmen, die empfindlicher auf Ausgaben von Gruppen mit niedrigerem Einkommen reagieren, stehen besonders im Risiko. Der starke Rückgang mehrerer US-Einzelhandelsaktien im vergangenen Monat nach düsteren Margenprognosen hat deutlich gemacht, dass es die unteren Einkommensgruppen sind, welche die Preiserhöhungen besonders zu spüren bekommen und ihr Konsumverhalten ändern. Rohstoff- und Energieunternehmen oder Unternehmen mit Produkten für den täglichen Bedarf hingegen haben eine höhere Preissetzungsmacht und damit mehr Gewinnstabilität.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Gewinnerwartungen zwar immer etwas Zeit brauchen, um die Entwicklung der Wirtschaft widerzuspiegeln, aber die Verzögerung in diesem Jahr wird angesichts der einzigartigen Umstände der Pandemie ausgeprägter ausfallen. Wir rechnen zwar mit bevorstehenden Herabstufungen durch die Analystinnen und Analysten, aber die Marktbewegungen stehen bereits im Einklang mit einer leichten Verlangsamung der Gewinne.
Dennoch ist es zu früh für ein Aktienübergewicht, obwohl die Bewertungen attraktiver geworden sind. Denn sollte es den Zentralbanken nicht gelingen, die Inflation einzufangen und eine weiche Landung der Wirtschaft herbeizuführen, drohen Gewinne und Margen weiter zu fallen.