Nur wenige Monate nach der UN-Klimakonferenz in Glasgow hat der jüngste Bericht des Weltklimarats (IPCC) für Ernüchterung gesorgt. Die UN-Organisation warnt vor unabwendbaren Klimarisiken in den nächsten zwanzig Jahren, selbst bei Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius. Sogar wenn dieses Ziel nur zeitweise überschritten werde, habe dies gravierende und irreversible Folgen; die Risiken für Gesellschaft, Infrastruktur und tief gelegene Küstenregionen würden steigen.  

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Laut IPCC führen Hitzewellen, Dürren und Überschwemmungen schon jetzt zu einem massenhaften Artensterben und gefährden die Nahrungsmittel- und Wasserversorgung von Millionen von Menschen. Doch derzeit geht es den Entscheidungsträgern vor allem darum, den Aufschwung nach Corona zu verlängern und angemessen auf die Folgen der russischen Invasion in die Ukraine zu reagieren.  

Neue Prioritäten  

Schon beim Neustart der Wirtschaft nach Corona war Energie teuer – und weil die Inflation so hoch ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr, wird in Europa und in den USA jetzt mit massiven Zinserhöhungen gerechnet. Der Krieg hat aber auch neue Ängste hinsichtlich Energiesicherheit und Energieangebot ausgelöst. Die Preise steigen immer weiter, und die Regierungen prüfen sogar die verstärkte Nutzung eigener fossiler Energieträger.  

Über den Autor

Chris Iggo ist Chief Investment Officer, Core Investments, bei Axa Investment. Er kam 2005 als Senior Strategist zu Axa IM. Davor war er fünf Jahre lang als Head of Strategy bei Cazenove Fund Management sowie vier Jahre bei Barclays Capital tätig, zunächst als Chefökonom für die USA (in New York) und dann als Chefökonom für Europa.

Davor war er sieben Jahre bei der Chase Manhattan Bank in London und New York als Ökonom und Devisenstratege tätig. Chris Iggo hat einen Bachelor- und einen Master-Abschluss in Wirtschaftswissenschaften von der University of London.  

Als die Spannungen zwischen Russland und der Ukraine in einem Krieg mündeten, kam es an den internationalen Aktienmärkten zu einem Ausverkauf. Und erstmals seit sieben Jahren kostete das Fass Öl mehr als 100 Dollar. Der Krieg hat schon jetzt zu schrecklichem Leid geführt und der Westen verhängte Sanktionen gegen die russische Führung, einige Banken und reiche Privatpersonen. Die wirtschaftlichen Folgen gehen aber weit darüber hinaus.  

Verhängnisvolle Rolle Russlands  

Entscheidend ist aber, dass Russland ein (zu) wichtiger Energielieferant ist. Zurzeit importiert die Europäische Union 90 Prozent ihres Gasbedarfs, davon fast die Hälfte aus Russland. Auch etwa 25 Prozent der Ölimporte und 45 Prozent der Kohleimporte der EU stammen aus Russland. Während in den letzten Jahren mehr Kapital in nachhaltige Energien floss, wurde immer weniger in Öl-, Gas- und Kohlekraftwerke investiert. Es heisst, der Energiesektor könne deshalb nicht gut auf einen plötzlichen Nachfrageanstieg reagieren – die Kapazität der erneuerbaren Energien reiche noch nicht aus, um Versorgungslücken zu schliessen.  

Energiewende auf der Kippe  

Durch Putins Angriff steht die Energiewende weltweit auf der Kippe. Wenn freiwillig oder gezwungenermassen weniger russische Energie verbraucht wird, verlagert sich die Nachfrage auf andere Lieferanten und Energiequellen; kurzfristig ändert sich an den hohen Preisen dann nichts. Weil man angesichts von Lieferstörungen aber flexibel und unabhängig sein möchte, wird demnächst wohl wieder mehr Kohle, Öl und Gas aus anderen Ländern genutzt – mit der möglichen Folge, dass die CO2-Emissionen nicht sinken und netto null in noch weitere Ferne rückt.  

Sogar Fracking wieder ein Thema?  

Ausreichende Kapazitäten für erneuerbare Energien oder Alternativen wie Kernkraft lassen sich nicht von heute auf morgen aufbauen, sodass die Preise wohl erst einmal hoch bleiben. Viele Politiker fordern bereits, stillgelegte Kohlekraftwerke wieder ans Netz zu bringen, damit die EU nicht mehr auf russische Energie angewiesen ist. In Grossbritannien wurden sogar Forderungen nach einer Wiederaufnahme des Frackings laut.  

Dieses Gefühl der Dringlichkeit ist verständlich. Für die Umwelt wäre es aber ein Desaster, wenn der Krieg dazu führte, dass alte Kohlekraftwerke wieder in Betrieb genommen würden und Tempo und Umfang der Dekarbonisierung gefährdeten. Es gab nie bessere Argumente für die Energiewende als heute. Jede Idee, die den Ausstieg aus fossilen Energien verlangsamt, sollte daher kritisch hinterfragt werden. Es gibt keine einfachen Lösungen. Fest steht aber, dass man sich ausgerechnet jetzt, wo unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen besonders teuer und gefährlich scheint, nicht noch abhängiger machen sollte.  

Weg vom russischen Gas und Öl  

Europa muss sich also von fossiler Energie aus Russland verabschieden, die Gasversorgung soll diversifiziert und die Energiewende beschleunigt werden. Die Europäische Kommission hat dafür einen Plan vorgelegt: Deutlich vor 2030 will man von russischer Energie unabhängig werden und REPowerEU soll den Gasimport diversifizieren, die Einführung von Biogas beschleunigen und bei Heizung und Energieerzeugung auf Gas verzichten.

Die EU rechnet damit, die Nachfrage nach russischem Gas bis zum Jahresende um etwa zwei Drittel senken zu können.  

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Der nächste Schritt  

Das könnte eine Chance sein, die Energiewende so voranzutreiben, dass Länder und Investoren in den nächsten Jahren nicht wieder unter so starken Druck geraten. Noch immer nutzt die Welt viel zu viel fossile Energie, die CO2-Emissionen fallen nicht schnell genug. Hohe Preise für fossile Energie dürften den Trend hin zu erneuerbaren Energien zwar beschleunigen und der technische Fortschritt senkt die Kosten langfristig. Die kurzfristigen Auswirkungen der jüngsten Entwicklungen sind aber unbestreitbar.  

Die CO2-Emissionen dürften höher sein als vor ein oder zwei Jahren erwartet, es ist aber auch mit mehr öffentlichen und privaten Investitionen in grüne Energien und die dafür nötige Technologie zu rechnen. Ziel sind letztlich deutlich weniger CO2-Emissionen, was auch der Energiesicherheit zuträglich wäre. Neben Sonnen- und Windenergie dürften auch Wasserstoff- und Kernenergie davon profitieren.  

Dekarbonisierung ist ein Muss  

Der heftige Energiepreisschock zeigt uns einmal mehr, wie wichtig Energiesicherheit ist. Fossile Energieträger bargen schon immer ein hohes politisches Konfliktpotenzial und Europas Energieabhängigkeit von einem aggressiven Russland wird nicht das letzte Problem sein. Der Klimawandel ist ebenfalls eine ernste Bedrohung für unseren Wohlstand. Die Zeichen der Zeit sind klar: Ohne Dekarbonisierung gibt es kein nachhaltiges Wachstum – und keine nachhaltige und glückliche Zukunft.    

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