Die Ukraine ist ein Land mit 33 Millionen Hektar Ackerfläche – in Deutschland sind es 11,6 Millionen Hektar. Spätestens seit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine herrscht an den internationalen Agrarmärkten grosse Unsicherheit. Vor allem der Weizenpreis stieg in den ersten Tagen nach der Invasion kräftig an.
Dies ist nicht verwunderlich, denn die Ukraine und Russland repräsentieren rund 28 Prozent der globalen Weizenexporte. Angesichts der aktuell blockierten Hafenanlagen erscheint der eigentlich anstehende Export von fünf bis acht Millionen Tonnen Weizen aus der Ukraine innerhalb der nächsten Monate unrealistisch.
Entscheidend wird nun sein, wie lange der Konflikt in der Ukraine anhält. Aktuell mangelt es dort vor allem an Diesel für die Landmaschinen, aber auch an Mitarbeitenden, die die jetzt fällige Aussaat bewerkstelligen müssten. In der Folge ist durchaus mit einem Rückgang des Erntevolumens von 30 bis 40 Prozent für die Vermarktungssaison 2022/23 zu rechnen. Saisonal bedingt wird es nicht einfach sein, diesen Ernteausfall zeitgleich durch die Lieferung aus anderen Ländern zu kompensieren.
Afrikanischen Staaten droht Nahrungsmittelkrise
Unter den grössten Weizenimporteuren befinden sich viele bevölkerungsreiche afrikanische Länder wie Ägypten, Algerien und Nigeria, aber auch Indonesien und Bangladesch. Diese Staaten werden versuchen, ihren zusätzlichen Bedarf nun in Australien, Indien oder Nordamerika zu decken.
Jörg Dehning ist seit Februar 2007 im Bereich Research & Portfoliomanagement tätig. Seit 2010 ist er für den DJE – Agrar & Ernährung verantwortlich. Insgesamt kann Jörg Dehning auf eine rund zwanzigjährige Erfahrung im Bereich Investment Banking und Asset Management zurückblicken. Nach einem erfolgreich abgeschlossenen Studium der Betriebswirtschaftslehre an der FH München begann er seine berufliche Laufbahn im Asset Management der Baden-Württembergischen Bank in Stuttgart. Die DZ Bank in Frankfurt sowie Pioneer Investments in München waren weitere Stationen.
Die entscheidende Frage bleibt jedoch, inwieweit die Importeure überhaupt preislich akzeptable Ware angeboten bekommen. Viele Tender sind zuletzt geplatzt. Wie in den Jahren 2007/08 wirkt in diesem Zusammenhang das Verhalten einiger Staaten preistreibend, den eigenen Getreideexport komplett einzustellen beziehungsweise zu beschränken.
Neben Russland haben bereits Ungarn, Bulgarien und die Türkei Exportbeschränkungen verkündet, und dies teilweise entgegen den EU-Freihandelsvorschriften. Auch der wichtige EU-Lieferant Serbien will vorerst kein Getreide mehr exportieren. Umso mehr wird davon abhängen, inwieweit sich die Erntemengen in den wichtigsten Produktionsländern der EU, aber auch in Nordamerika, künftig entwickeln. Immerhin werden rund 210 Millionen Tonnen, also gut ein Drittel der gesamten globalen Produktionsmenge am Weltmarkt gehandelt. Dabei muss man wissen, dass der Handel bei Getreide ein Vielfaches (46x) der eigentlichen Produktion beträgt.
Reduziertes Angebot bei Ölsaaten und Futtermitteln
Während bei Weizen und Mais zumindest eine Chance auf gewisse Kompensation durch andere Anbauregionen besteht, ist die Abhängigkeit von der Ukraine im Bereich Ölsaaten kaum aufzufangen: So ist die Ukraine mit weitem Abstand der weltweit grösste Hersteller von Sonnenblumenöl. Dies mit einem Weltmarktanteil von nahezu 50 Prozent.
Ersatzprodukte wie Rapsöl sind nun verstärkt gefragt und im Preis deutlich gestiegen. Allerdings ist selbst bei Raps die Versorgungslage wegen einer äusserst schlechten Vorjahresernte in Kanada schon angespannt. Vor diesem Hintergrund bleibt nur zu hoffen, dass Kanada dieses Jahr wieder an das Produktionspotenzial früherer Jahre anknüpfen kann.
Futtermittelkrise absehbar
Noch viel stärker dürfte der Produktionsausfall der Ukraine für den Biosektor wiegen: 80 Prozent der Bio-Sonnenblumenprodukte kommen schliesslich von dort. Das Fehlen dieser Artikel im Supermarktregal ist allerdings das kleinste Problem. Der in der Verarbeitung erzeugte Ölpresskuchen ist vielmehr ein wichtiger Bestandteil der hiesigen Biofuttermittel. Auch die Gerste, die in der Ukraine angebaut wird, dient in erster Linie als Futtermittel.
Engpässe bei Öko-Futtermitteln sind daher in den kommenden Monaten wohl kaum zu vermeiden. Da darüber hinaus 52 Prozent der EU-Maisimporte aus der Ukraine stammen, steuert Europa gerade regelrecht auf eine Futtermittelkrise zu, zumal es hier bedauerlicherweise zu wenige Bioethanolanlagen zur Herstellung eiweissreicher Trockenfutter gibt.
Besonders betroffen ist die Schweinezucht in Spanien. Es verwundert daher nicht, dass die spanische Regierung wegen der Versorgungsprobleme selbst die Regeln für den Import von Mais aus Argentinien und Brasilien vorübergehend lockern möchte. So hat Spanien als Hauptabnehmer von Mais für Tierfutter die EU-Kommission umgehend dazu gedrängt, die Einfuhrkontrollen bei Mais aus Südamerika (sogenanntem Genmais) schnellstmöglich zu lockern.
Verminderter Düngemitteleinsatz belastet Erntemengen
Ob die südamerikanischen Landwirte einen Teil der Ernteverluste in der Ukraine auffangen werden können, hängt aber auch von weiteren wichtigen Faktoren ab. Das sogenannte La-Niña-Klimaphänomen sorgte zuletzt in zahlreichen Regionen Südamerikas für längere Trockenheitsperioden. Infolgedessen wurden die Ernteschätzungen für die dortigen Sojabohnen mehrmals reduziert.
Der Konflikt lässt die Weizenpreise weltweit explodieren. In ärmeren Ländern ist die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln gefährdet. Zur Analyse (Abo).
Nicht förderlich ist zudem die bis dato starke Abhängigkeit der brasilianischen Landwirte von russischen Düngemitteln: Mehr als die Hälfte des russischen Ammoniumnitratdünger-Exportvolumens ging bislang nach Brasilien. Da Weissrussland und Russland ferner zusammen etwa 40 Prozent des globalen Kalidüngemittelangebots auf sich vereinen, ist man nun auch hier auf andere Lieferanten angewiesen.
Grosse Sorgen in Brasilien
Eine brasilianische Delegation war daher erst jüngst in Kanada, um eine bessere Kaliversorgung zu erlangen. Das kanadische Produktionsvolumen soll denn auch im Laufe des Jahres nochmals um eine Million Tonnen hochgefahren werden. Die Kapazitätsanpassung dürfte dennoch nicht ausreichen, das Preisniveau für Kalidünger wieder auf ein akzeptables Niveau zurückzuführen. Hierzulande verteuern die steigenden Gaspreise wiederum die Herstellung von Stickstoffdünger enorm, sodass bereits einige Anbieter zur Vermeidung von Verlusten den Betrieb diverser Produktionsanlagen gleich ganz eingestellt haben.
Auch wenn die höheren Getreidepreise den nominalen Hektarertrag tendenziell erhöhen, werden viele Landwirte in dieser Anbausaison versuchen, den eigenen Düngemittel-Einsatz einzudämmen beziehungsweise auf organische Stoffe wie Gülle umzusteigen. In der Folge sind selbst in Europa Ernteeinbussen von 10 Prozent und mehr nicht auszuschliessen.
Preise und Lieferkettenprobleme gefährden Versorgungssicherheit
Die Auswirkungen auf die Konsumenten sind differenziert zu betrachten: So dürften die gestiegenen Getreidepreise in entwickelten Ländern nur zu einer leicht höheren Inflation führen. Bei einem Preisanstieg von 100 Euro je Tonne netto für Qualitätsweizen erhöht sich der Weizenkostenanteil im Kilogramm Weizenbrot gerade mal um 9,3 Cent. Hier wird ohnehin oft übersehen, dass ein immer geringerer Anteil der Nahrungsmittelausgaben auf das landwirtschaftliche Produkt selbst entfällt.
«Positives Preisumfeld im Agrarsektor»
Andere Bereiche der Wertschöpfungskette sind in der Folge wesentlich wichtiger geworden. Kritisch sind in diesem Zusammenhang eher die Lieferkettenprobleme, die Energie und Warenknappheit an sich. Nicht verfügbare oder zu teure Futtermittel werden die Produktion von Fleisch und Fisch mittelfristig belasten. Das bekommt wiederum die Fleisch- und Fischverarbeitungsindustrie massiv zu spüren.
So müssen Schlachtunternehmen derzeit im Einkauf Aufschläge akzeptieren, um überhaupt an ausreichend Ware zu kommen. Die Zucker- und Stärkeindustrie ist anderseits extrem energieintensiv und demzufolge auf eine verlässliche Gasversorgung angewiesen. Sollte es hier wegen Sanktionen oder kriegsbedingt zu Lieferunterbrechungen kommen, sind Angebotsbeschränkungen wahrscheinlich. Meist stehen die Strom- und Gaskontrakte der Lebens- und Düngemittelindustrie sowieso unter «Force Majeure»-Vorbehalt, ebenso wie Logistikkontrakte.
«Tank oder Teller»-Diskussion allein nicht zielführend
Die aktuellen Turbulenzen an den internationalen Agrarmärkten dürften vermutlich auch die frühere «Tank oder Teller»-Diskussion wieder in den Medien-Fokus rücken. Angesichts der Knappheit von Agrargütern und Energie haben wir heute jedoch eine ganz andere Ausgangslage als 2007/08: Die strategischen Weichenstellungen in der Energie- und Agrarpolitik sind deshalb entscheidender denn je. Neben Solar- und Windenergie sollte wohl auch Biomethan aus Gärresten und Gülle wieder stärker gefördert werden.
Die Rücknahme von EU-Stilllegungsflächen um 4 Prozentpunkte könnte anderseits theoretisch etwa 12 Prozent des Ernteausfalls aus der Ukraine auffangen (unter der Annahme gleicher Hektarerträge). Generell muss die Nahrungsmittelproduktion in diesem Umfeld massgeblich unterstützt werden und in der Gasversorgung absoluten Vorrang haben.
Agraraktien haben weiteres Potenzial
Das positive Preisumfeld im Agrarsektor dürfte den Unternehmen aus dem Bereich zum Teil erheblichen Rückenwind verleihen: So wird die Verschiebung der Handelsströme bei Agrargütern vor allem den international tätigen Agrarhändlern ein gewisses Zusatzgeschäft bescheren. Generell profitieren breit aufgestellte Agrarkonzerne von der aktuellen Situation (Archer Daniels Midland oder Bunge). Im Düngemittelsegment profitieren insbesondere die nordamerikanischen Produzenten (Nutrien und Mosaic) von einer vergleichsweisen besseren Gasversorgung.
Saatgut- und Pflanzenschutzproduzenten (Corteva oder auch Bayer und BASF) müssen zwar mit höheren Rohstoffkosten kalkulieren, eine gute Produktnachfrage sollte aber dennoch die Ertragsentwicklung begünstigen. Im Bereich Landtechnik (AGCO und Deere) bleiben wiederum effizienzsteigernde Innovationen das wichtigste Verkaufsargument und damit Kriterium für die Aktienauswahl.
1 Kommentar
In der EU und den USA werden Millionen Tonnen Mais, Weizen, Raps, Zucker als Benzin-/Dieselzusatz, oder zur Stromerzeugung verbrannt, z.B. E10 Benzin. Dies wird mit der Ökoreligion begründet. Die Verbrennung von Lebensmitteln soll gem. dieses Glaubens gut für das "Klima" sein.
Sofern man auf einen biologischen Anbau verzichtet liessen sich die Erntemengen erheblich steigern.
Insgesamt ist, sofern man im Westen mit der Ökoreligion ein wenig pausiert, eine Lebensmittelknappheit auch bei einem völligem Ausfall der Ukraine und Russlands vermeidbar.