Die Saga um Aduhelm, das vom Schlieremer Startup Neurimmune und dem US-Pharmaunternehmen Biogen entwickelte erste Alzheimer-Medikament, ist um eine weitere Episode reicher. Ende vergangener Woche haben die amerikanischen Centers for Medicare & Medicaid CMS, also die staatlichen Krankenversicherungen in den USA, entschieden, dass Behandlungen mit dem Medikament nur dann vergütet werden, wenn sie im Rahmen klinischer Studien stattfinden.
Der Entscheid kommt einem kommerziellen K.o.-Schlag des einstigen Hoffnungsträger gleich. Anstatt an Zehntausende oder gar Hunderttausende Patienten und Patientinnen wird das Medikament damit, zumindest für die nächsten Jahre, nur Tausenden verabreicht werden können.
Damit gerät Aduhelm vollends zum Millionengrab für Biogen und seinen Konzernchef Michel Vounatsos. Biogen hatte im vergangenen Jahre Umsätze von rund 3 Millionen Dollar mit Aduhelm erwirtschaftet. Die Vertriebs- und Verwaltungskosten lagen bei 485 Millionen Dollar; ein Missverhältnis, das einen Analysten die Frage aufwerfen liess, wann die «treuhänderische Pflicht des Unternehmens» einsetze, ein Programm einzustellen.
Klinische Nutzen war nicht bewiesen
Die CMS begründeten ihren Entscheid damit, dass Aduhelm aufgrund eines Ersatz-Endpunktes zugelassen worden sei. Konkret: Das Medikament kam aufgrund der Tatsache auf den Markt, dass Biogen zeigen konnte, dass Aduhelm zu einem Abbau der für Alzheimer typischen Eiweiss-Ablagerungen führt. Dass es auch zu einem klinischen Benefit für die Patienten kommt, indem Aduhelm etwa den Verlust der kognitiven Fähigkeiten bremst, konnte Biogen allerdings nicht zweifelsfrei beweisen.
Zur Erinnerung: Der Entscheid der US-Arzneimittelbehörde FDA im Juni vergangenen Jahres, Aduhelm aufgrund eines sogenannten Surrogate Endpoint zuzulassen, war höchst umstritten. Er erfolgte entgegen der Meinung des von der FDA einberufenen Expertengremiums – ein Vorgang, der seinesgleichen sucht in der Geschichte der FDA.
Trotzdem setzte Biogen den Preis für eine Jahresbehandlung bei atemberaubenden 56’000 Dollar fest. Inzwischen hat Biogen seine Preisvorstellungen korrigiert.
Ablagerungen heisst noch lange nicht Alzheimer
Der Entscheid der FDA befeuerte die jahrzehntelange Diskussion darüber, welche Rolle die Ablagerung von Amyloiden – also der Eiweisse, die sich im Gehirn von Alzheimer-Patienten finden – bei der Krankheit tatsächlich spielen. Sind sie Ursache oder Folge der Krankheit? Warum gibt es Menschen, deren Gehirne voller Amyloid-Ablagerungen sind, wenn sie sterben, die aber nie Alzheimer entwickelt hatten?
Das Verdikt der CMS kommt deshalb einer Korrektur des FDA-Entscheides gleich. Die Botschaft: Medikamente müssen erwiesenermassen einen klinischen Nutzen haben, sonst können sie nicht zulasten der sozialen Krankenversicherung eingesetzt werden. In Europa ist Aduhelm nicht auf dem Markt. Die europäische Arzneimittelbehörde EMA hat die Zulassung des Medikaments im Dezember abgelehnt. Biogen hat den Entscheid angefochten. Der Entscheid der Schweizer Zulassungsbehörde Swissmedic steht noch aus.
Roche wird kein zweites Biogen
Doch der Entscheid ist nicht nur für Biogen ein Paukenschlag. Die CMS haben sich auch mit Blick auf weitere vergleichbare Medikamente, die zurzeit klinisch getestet werden, positioniert. So beziehen sich die CMS nicht nur auf Biogen, sondern halten generell fest, dass Antikörper, die von der FDA aufgrund der Tatsache zugelassen wurden, dass sie zu einem Abbau der für Alzheimer typischen Ablagerungen im Gehirn führen, nur dann vergütet werden, wenn sie in klinischen Studien eingesetzt werden.
Das heisst, der Entscheid geht auch an die Adresse anderer Pharmakonzerne wie Eli Lilly und Roche, die ebenfalls Antikörper gegen Amyloide am Start haben. Die Resultate zu Roches Gantenerumab werden in der zweiten Jahreshälfte erwartet. Wobei Roche-Pharmachef Bill Anderson bereits klargemacht hat, dass der Basler Pharmakonzern nur einen Zulassungsantrag stellen wird, wenn der klinische Nutzen gesichert ist. Das Unternehmen werde nicht auf Basis eines Biomarkers – eben des Abbaus der Ablagerungen – eine Zulassung beantragen, sagte Bill Anderson der «Handelszeitung» anfangs Februar. Alle bräuchten Klarheit, das Unternehmen, die Ärzte und die Patienten, sagte der Pharmachef.
Biogen schlägt zurück
Ganz anders Biogen. Das Unternehmen schlug Ende vergangener Woche zurück und warf den CMS vor, den Medicare-Begünstigten den Zugang zu Aduhelm zu verwehren. Der Branchenverband PhRMA gab zu bedenken, die Regelung könne «Ärzte und Patienten daran hindern zu entscheiden, ob ein bestimmtes von der FDA zugelassenes Medikament die richtige Wahl für sie ist». Kritiker der Aduhelm-Zulassung wie Public Citizen begrüssten die Entscheidung dagegen als einen Sieg für die «evidenzbasierte Medizin».
Ob Aduhelm doch noch zum Fliegen kommt, entscheidet sich, wenn die Resultate der nun laufenden vierten klinischen Studie vorliegen. Das Screening der Patienten soll im Mai beginnen, mit definitiven Resultaten ist in vier Jahren zu rechnen. Doch bis dahin kann viel passieren. In der biomedizinischen Forschung sind vier Jahre eine lange Zeit.