Medartis mit Sitz im Basler Stadtteil Kleinhüningen produziert Implantate, die in der Kiefer- und Gesichtschirurgie sowie nach Unfällen an Armen und Beinen eingesetzt werden. Das Unternehmen wurde 1997 durch Thomas Straumann mit 7 Mitarbeitern gegründet, kotierte die Aktien aber erst 2018 an der Schweizer Börse. CEO ist seit August 2019 der ehemalige Synthes-Manager Christoph Brönnimann.
Herr Brönnimann, es mag etwas zynisch tönen: Aber Medartis geht es umso besser, je mehr Unfälle die Leute haben. Das hat die Pandemie bislang deutlich gezeigt. Denn je mehr Lockdowns es gab, desto weniger konnten die Leute ihren Freizeitaktivitäten nachgehen.
Christoph Brönnimann: Wir sind in einer Nische der Traumatologie tätig. Wenn die Menschen stürzen, sind öfters Arme und Beine betroffen. Es kam in der Pandemie natürlich zu weniger Unfällen, weil die Leute mehr zu Hause blieben. Daher brach unser traumatologisches Geschäft im zweiten Quartal 2020 stark ein. Die meisten Unfälle heutzutage betreffen übrigens nicht mehr den Verkehr. Die Unfälle passieren hauptsächlich bei Freizeitaktivitäten und bei älteren Bevölkerungsgruppen, die heute viel aktiver sind als früher.
Wie schätzen Sie die Entwicklung bei den Lockdowns ein?
Wir sehen derzeit noch Lockdowns in Teilen Australiens, Japans und in Osteuropa. Westeuropa und die USA können mit der Pandemie mittlerweile recht gut umgehen. Wie gehen nicht davon aus, dass es nochmals zu grösseren Lockdowns kommen wird.
Christoph Brönnimann, geboren 1966, begann nach dem Chemie-Studium an der ETH Zürich seine berufliche Karriere als Produkt- und Marketingmanager bei Roche. Nach vier Jahren in den USA und Zwischenstationen bei Arthur Andersen und PriceWaterhouseCooper heuerte Brönnimann bei Synthes an. Als Johnson & Johnson 2012 die Schweizer Medizinaltechnikfirma übernahm, war Brönnimann Leiter des Schweiz-Geschäftes. Bis Brönnimann Ende August 2019 zu Medartis stiess, leitete er das Medtech-Geschäft von Johnson & Johnson in Deutschland, Österreich und Schweiz. Brönnimann ist verheiratet und Vater einer erwachsenen Tochter und eines erwachsenen Sohnes. Er lebt in der Region Basel.
Welches ist das meistverkaufte Produkt von Medartis?
Die Nummer eins ist die distale Radius-Frakturplatte. Das hängt damit zusammen, dass sich der Mensch bei Stürzen instinktiv mit den Händen abstützen will. Eine Folge ist dann oft ein Handgelenksbruch. Wir haben mit dieser Platte eine innovative, patentierte Technologie, die sich von den Konkurrenzprodukten unterscheidet. Wir verkaufen etwa 100'000 Platten pro Jahr. Sie waren ein wesentlicher Umsatz-Treiber in den letzten Jahren.
Von Ihnen stammt die Aussage, dass sich grosse Unternehmen im Medizinaltechnikbereich immer mehr aus Nischen-Gebieten zurückziehen, in denen etwa Medartis tätig ist. Weshalb?
Die Medtech-Industrie hat sich in den letzten zehn Jahren enorm verändert. Es kam zu Konsolidierung und zu grossen Übernahmen. Die Übernahmemodelle gingen immer einher mit Kosteneinsparungen. Grosse Unternehmen wie Johnson & Johnson, Zimmer Biomet oder Stryker, die historisch stark aufgestellt sind im Orthopädie-Bereich, konzentrieren sich zunehmend auf Knie, Schultern oder Hüfte. Die Folge ist, dass Investitionen in Produkteentwicklungen im Bereich der Extremitäten reduziert oder ganz gestoppt wurden. Das bietet Chancen für Spezialisten wie uns.
Der grosse Hoffnungsmarkt von Medartis sind die USA. Der Markt trägt keine 20 Prozent zum Gesamtumsatz bei, hat aber im ersten Halbjahr rund 50 Prozent zugelegt. Wie entwickelte sich dieser Markt im dritten Quartal?
Die USA sind verantwortlich für rund 60 Prozent des globalen Orthopädie-Marktes. Wir haben da grosses Aufholpotenzial. Im Bereich der oberen Extremitäten haben wir ein wettbewerbsfähiges Portfolio. Hier erwarten wir weiterhin starkes Wachstum, zusammen mit dem Ausbau des Aussendienstes. In den unteren Extremitäten komplettieren wir das Portfolio derzeit. Auch hier erwarten wir starkes Wachstum. Dann schauen wir natürlich, ob wir das Wachstum mit allfälligen Akquisitionen beschleunigen können. Erste Priorität hat hier der Bereich der unteren Extremitäten.
«Ein Standort-Entscheid sollte nicht bloss wegen Währungsschwankungen getroffen werden.»
Meinen Sie mit Akquisitionen eher Beteiligungen oder volle Übernahmen?
Wir sind grundsätzlich für beides offen.
Der Mitarbeiterbestand wurde per Jahresmitte mit 649 angegeben, was einem Wachstum von 5 Prozent gegenüber Jahresanfang 2021 entsprach. Wie hoch ist die Mitarbeiterzahl heute?
Weltweit sind es heute 670. Die USA sind überproportional gewachsen. Rund 40 Prozent der Medartis-Belegschaft sind aber in der Schweiz beschäftigt, der Rest in den Vertriebsorganisationen.
Im vierten Quartal 2020 ist Medartis in den Markt China eingetreten, also zu einer Zeit, als die Repressionsmassnahmen gegen die inländische Politik und Wirtschaft begannen. Hat diese Regierungs-Kampagne den Start von Medartis in China negativ beeinträchtigt?
Es hat den Markteintritt nicht erschwert, wir hatten diesen ja über mehrere Jahre vorbereitet. Das beinhaltete den Aufbau einer Tochtergesellschaft, Registrierungen und Zertifizierungen. Wir fokussieren uns in China auf die Ballungszentren Peking, Shanghai und Guangzhou. Es gibt auch schon Umsatz. Wir haben aber gesehen, dass China ein stark regulierter Markt ist. Es gibt grosse Veränderungen. China befindet sich im Umbruch. Es wird zunehmend über staatlich gesteuerte Ausschreibungen gelenkt. Das führt unweigerlich zu Preisdruck. Daher überarbeiten wir derzeit unsere China-Strategie. Wir glauben grundsätzlich an das Potenzial. Aber wir werden wahrscheinlich Korrekturen an unserer Strategie und am damaligen Business-Plan vornehmen müssen. Wir schauen insbesondere auf die Entwicklung des Premium-Segmentes.
Zentrale Thematik bei den Unternehmen sind derzeit die Lieferkettenprobleme. Ist Medartis auch davon betroffen?
Das werden wir oft gefragt. Aber nein, da haben wir keine Probleme, weder im letzten noch in diesem Jahr. Wir haben langjährige und enge Partnerschaften mit regionalen Zulieferern. Wir halten bei wichtigen Rohstoffen wie Titan zudem mehrjährige Lager.
Was macht Ihnen in operativer Hinsicht denn am meisten Bauchweh?
Einmal abgesehen von der Corona-Pandemie sehen wir einen starken Wandel im regulatorischen Umfeld. Das führt zu Mehrkosten und Zusatzaufwand zulasten von Ressourcen in Forschungs- und Entwicklungsbereich. Wir sehen zudem einen Trend zu Steril-Implantaten und Einwegprodukten, wo man sich natürlich die Frage der Nachhaltigkeit stellen muss. Drittens das Spannungsfeld von Spitzenmedizin einerseits und der Kostendruck andererseits. All diese Herausforderungen können wir als mittelgrosses Unternehmen aber meistern.
Die Schweizer Medizintechnik-Branche verlor Ende Mai den privilegierten Zugang zum EU-Binnenmarkt. Die Branche hatte damals im Vorfeld heftig reagiert. Seither ist es um das Thema ruhig geworden. Hat es sich erledigt?
Nein, natürlich nicht. Für Schweizer Firmen, die hierzulande entwickeln, forschen und produzieren wie wir, stellen sämtliche Arten von Handelshemmnissen eine Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit dar. Wir haben in unserer deutschen Tochtergesellschaft in der Nähe von Freiburg im Breisgau ein europäisches Vertriebs- und Verteilzentrum aufgebaut. Quasi über diesen Umweg verkaufen wir nun unsere Produkte in die EU. Das ist mit Mehrkosten verbunden, die sich auf die Einführung von Neuprodukten auswirken werden, aber auch auf den normalen Betrieb. Die Konsquenzen im Importbereich von Gütern in die Schweiz werden wohl erst noch auf uns zukommen.
Wieviel Mehrkosten entstanden Ihnen durch das Verteilzentrum?
Rund eine halbe Million Franken.
Sie haben es gesagt, die Medartis-Produktion findet vollumfänglich in der Schweiz statt. Die langfristige Aufwertung des Frankens ist diesbezüglich ein Nachteil und führt zu Währungsverlusten. Halten Sie an der Standort-Frage fest oder gibt es Gedanken an eine Produktionsverlagerung ins Ausland?
Ein solcher Entscheid sollte nicht bloss wegen Währungsschwankungen getroffen werden. Alles an einem Ort zu produzieren, das bringt natürlich strategische Vorteile. Wir glauben weiterhin, dass wir uns in der Schweiz an einem guten Standort befinden. Mittel- und langfristig wird sich die Frage nach einem zweiten Produktionsstandort im Hinblick auf Wachstum und Kapazitäten aber sicherlich stellen. Unsere Wachstumspriorität USA spräche natürlich dafür, dass wir mit einem zusätzlichen Produktionsstandort in einen anderen Währungsraum gingen. Aber von dieser Frage sind wir noch ein paar Jahre entfernt.
Dieser Beitrag erschien erstmals in «Cash.ch» unter dem Titel: «Medartis hat Investoren, welche an die Wachstums-Story glauben».
Nach den Halbjahreszahlen, die im August bekannt gegeben wurden, hob Medartis die Guidance für das Gesamtjahr 2021 an. Es soll ein Umsatzwachstum von mindestens 20 Prozent in Lokalwährungen erreicht werden und eine EBITDA-Marge von 16 Prozent. Halten Sie an dieser Guidance aus heutiger Sicht fest?
Ja, an dieser Guidance halten wir fest.
Mit einem Kursanstieg von fast 160 Prozent ist Medartis die mit Abstand beste Schweizer Aktie an der Schweizer Börse in diesem Jahr. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Grundsätzlich sollten Unternehmen den eigenen Aktienkurs nicht kommentieren. Aber die Entwicklung freut uns natürlich. Sie spiegelt sicher die guten Ergebnisse und den positiven Ausblick, die wir anlässlich der Halbjahreszahlen publizieren konnten.
Haben Sie Hinweise, woher die verstärkte Nachfrage nach den Aktien kommt? Kaufen mehr institutionelle oder private Investoren die Aktien?
Es kamen neue Investoren aus dem Ausland dazu. Jüngst hat beispielsweise ein skandinavischer Investor das Überschreiten einer meldepflichtigen Schwelle bekannt gegeben. Grundsätzlich hat Medartis Investoren, die an unsere Wachstums-Story glauben. Sie wollen strategisch und langfristig investiert bleiben. Daher haben wir eine sehr stabile Aktionärsstruktur.
«Wir sagen seit dem Börsengang 2018, dass wir uns technologisch breiter aufstellen wollen und dass dafür Akquisitionen in Betracht gezogen werden.»
Medartis-Hauptaktionär und Vizepräsident ist Thomas Straumann, Gründer des gleichnamigen Zahnimplantateherstellers. Er hält knapp 48 Prozent Kapitalanteil. Gibt es Anzeichen, dass er seine Medartis-Beteiligung reduzieren könnte?
Thomas Straumann ist ein sehr unternehmerisch orientierter Mensch. Wie bei den meisten Small- und Mid-Cap-Firmen mit einer klaren Eigentümer-Struktur gibt es auch bei uns eine etwas eingeschränkte Liquidität. Wir sind sicher offen dafür, dass wir diese Liquidität erhöhen, wenn sich zukünftig eine Möglichkeit bietet.
Bei Wachstumsfirmen sind Kapitalerhöhungen oft ein Thema. Auch bei Medartis?
Wir werden sicher nicht grundlos eine Kapitalerhöhung durchführen. Wir sagen seit dem Börsengang 2018, dass wir uns technologisch breiter aufstellen wollen und dass dafür Akquisitionen in Betracht gezogen werden. Die Finanzierung einer Übernahme mittels Kapitalerhöhung ist also denkbar.
Die Geschichte der Med-Tech-Branche ist eine Geschichte der Übernahmen. Sie selber waren Chef von Synthes Schweiz, als der Konzern 2012 für über 21 Milliarden Dollar von Johnson & Johnson verkauft wurde. Hat es für Medartis seit dem Börsengang Übernahmeangebote gegeben?
Ich kann das nicht kommentieren. Wir haben ein stabiles Aktionariat und sind ein eigentümergeführtes Unternehmen. Wir haben den ganzen Support des Aktionariats, damit wir weitsichtig denken und handeln können.
Im Verwaltungsrat von Medartis sitzt ein 'Who is Who' der Schweizer Med-Tech-Branche: Hauptaktionär Thomas Straumann, Präsident Marco Gadola sowie Mitaktionär Willi Miesch, der Medartis von 1998 bis 2019 als CEO führte. Das sind alles starke Persönlichkeiten. Wie hoch ist der Druck?
Das sind alles Top-Unternehmer. Und es ist fantastisch, mit einem solchen Verwaltungsrat und solchen Aktionären zusammenarbeiten zu können. Wir haben auf der strategischen Ebene einen sehr regen, guten und professionellen Austausch. Auf der operativen Ebene sind mein Management-Team und ich in der vollen Verantwortung. Wir geniessen die volle Unterstützung des Verwaltungsrates.
Sie waren jahrelang Spitzen-Handballer beim RTV Basel in der obersten Schweizer Spielklasse. Was haben Sie von dieser Zeit für ihren Job als Manager mitnehmen können?
Sehr viel. Der Leistungssport war eine sehr gute Schule. Man kann sich hohe und ambitiöse Ziele setzen und mit einer Fokussierung auch erreichen. Man lernt, sich nach Niederlagen wieder aufzubauen und sich zu verbessern. Als Handballer ist man auch ein Teamplayer, der daran glaubt, dass das Team immer grösser ist als die Summe der Individuen. Gemeinsamer Erfolg macht in meinen Augen viel mehr Spass.