Anfang des Jahres war die vorherrschende Meinung, dass sich das globale Wachstum zwar abschwächen würde, sich aber oberhalb des langfristigen Trends entwickelt. Der Ukraine-Konflikt stellt nun jedoch einen negativen Schock für das Wachstum dar und treibt gleichzeitig die Inflation in die Höhe; die globalen Stagflationsrisiken sind daher unserer Einschätzung nach gestiegen. Die Gefahr einer Rezession in Europa liegt jetzt bei fünfzig zu fünfzig.

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Die ökonomischen Folgen für Europa hängen entscheidend davon ab, inwieweit die Energieversorgung aus Russland fortgesetzt wird. Unserer Ansicht nach wird ein «ordnungsgemässer Übergang» zu einer Abkehr von der russischen Energiesituation das Wachstum über mehrere Jahre hinweg erheblich beeinträchtigen.

Deshalb haben wir unsere Prognose für das BIP-Wachstum 2022 von 4,2 Prozent vor Beginn des Konflikts auf 2,7 Prozent gesenkt. Die Folgen werden unterschiedlich stark zu spüren sein, wobei Deutschland und die Niederlande aufgrund ihrer Abhängigkeit von Russland im Energiebereich und in ihren Handelsbeziehungen besonders gefährdet sind.

Über die Autorin

Katharine Neiss ist seit 2020 Chief European Economist bei PGIM Fixed Income. Zuvor war sie als Head of the International Surveillance Division bei der Bank of England tätig. An der University of British Columbia promovierte sie in Wirtschaftswissenschaften.

Zudem ist Italien, als grosser Importeur von russischem Gas über eine ukrainische Pipeline, einmal mehr ein Risiko für den Zusammenhalt und das Wachstum im Euro-Raum. Sollten die russischen Energieimporte vollständig gestoppt werden, ist mit Produktionskürzungen und Nachfragerückgängen zu rechnen. Diese würden das jährliche Wirtschaftswachstum der Region ins Negative drücken.

Übertragungseffekte in Ländern wie Kolumbien und Nigeria wahrscheinlich

Mit Ausnahme von China unterteilt der Konflikt die Schwellenländer in Gewinner und Verlierer. Rohstoffexporteure und Länder, die aus Handelsdivergenzen und der Regionalisierung Nutzen ziehen können, wie Kolumbien und Nigeria, könnten durchaus von positiven Übertragungseffekten profitieren.

Zahlreiche weitere Länder, darunter Tunesien und Chile, mussten hingegen erhebliche Einbussen bei ihren Handelstätigkeiten hinnehmen, da sich lebenswichtige Güter wie Nahrungsmittel und Energie deutlich verteuert haben. Daraus sind soziale Spannungen entstanden, sodass sich einige Schwellenländer (etwa Sri Lanka und Ägypten) an die internationale Gemeinschaft wenden, um Hilfspakete zu erhalten.

Aber selbst Länder, welche Öl und Gas exportieren und von einem Anstieg der Energiepreise profitieren, müssen höhere Kosten für Lebensmittelimporte tragen, was die Vorteile der Inflation minimiert. Auch die sinkende Risikobereitschaft in Verbindung mit der anhaltenden Straffung der Geldpolitik in den USA und im Euroraum wirkt sich negativ aus, insbesondere für Länder, die bereits hohe Leistungsbilanzdefizite finanzieren müssen. Hierbei ist besonders die Türkei anfällig für diese vielfältigen Belastungen.

Die US-amerikanische Wirtschaft ist dagegen weitaus besser von den Auswirkungen des Konflikts abgeschirmt. Da die USA ein Nettoexporteur von Energie mit minimalen Handelsverflechtungen mit Russland sind, dürften die unmittelbaren Auswirkungen auf die Realwirtschaft vergleichsweise gering ausfallen. Zudem wirkt die kräftige US-Wirtschaft zu Beginn der Krise wie ein zusätzlicher Puffer.

Dennoch treiben die Auswirkungen der weltweit gestiegenen Energie- und Lebensmittelpreise die Inflation weiter in die Höhe, was die Realeinkommen der Haushalte drückt. Nach dem Ende der fiskalischen Anreize und der Verschärfung der finanziellen Bedingungen ist davon auszugehen, dass sich die Nachfrage im kommenden Jahr abschwächt, was den Inflationsdruck mindern wird.

Die Lage in China ist dagegen eine andere. Die Bemühungen des letzten Jahres, den Immobilienmarkt abzukühlen, haben das Wachstum stärker als erwartet gedämpft. Umso schwieriger wird es, das ehrgeizige diesjährige Wachstumsziel von 5,5 Prozent zu erreichen. Sollte China an diesem Wachstumsziel festhalten, dürfte das nur mit weiteren wirtschaftspolitischen Massnahmen erreichbar sein.

Je länger ein solcher Konjunkturimpuls hinausgezögert wird, desto umfangreicher wird der erforderliche politische Stimulus ausfallen müssen. In Anbetracht der entscheidenden Bedeutung des Jahres 2022 für die Entscheidung über die politische Führung in den nächsten fünf Jahren erwarten wir, dass die chinesische Staatsführung alle Anstrengungen unternehmen wird, um ihr Wachstumsziel zu erreichen. Dies wird eines der wenigen Aufwärtsrisiken für das Wachstum in diesem Jahr darstellen.

Die globale Inflationsrate bleibt nach wie vor aussergewöhnlich hoch. Auch wenn die Ukraine nur einen sehr kleinen Teil der Weltwirtschaft ausmacht, werden die Auswirkungen des Konflikts auf die Energiepreise weiterhin weltweit zu spüren sein und die Inflationsentwicklung in den Industrie- und Schwellenländern gleichermassen beeinflussen. Zusätzliche Unterbrechungen der Lieferkette durch Chinas anhaltende Lockdown-Massnahmen haben die Zentralbanken zudem auf Kurs gehalten, die finanziellen Bedingungen zu straffen.

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