Das Anlageumfeld hat sich dramatisch verändert: Lange Jahre galt das Goldilocks-Szenario mit geringer Inflation, ultraniedrigen Zinsen und mässigem Wachstum. Nun hat sich die Welt auf den Kopf gestellt. Darum müssen Investorinnen und Investoren umdenken. Das alte «Vor-Corona-Gleichgewicht», zu dem auch noch geringe geopolitische Risikoprämien beitrugen, besteht nicht mehr.

Die hohe Inflation, angefacht von explodierenden Energiekosten, und die unklaren weiteren Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine stellen die Anlegenden vor grosse Herausforderungen – sowohl auf der Obligationen- als auch auf der Aktienseite. Auf die gestiegene Inflation haben die führenden Notenbanken mit einer Straffung der Geldpolitik reagiert. Die Folgen sind deutlich: Gemischte Anleihenaktienportfolios sind durch steigende Zinsen unter Druck geraten. Hinzu kommen zunehmend Rezessionssorgen.

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In diesem Umfeld haben seit Jahresbeginn niedrig bewertete Substanzaktien, sogenannte Value-Aktien, deutlich besser am Markt abgeschnitten als etwa Wachstumswerte (Growth). Beide Aktienstile liegen zwar im Minus, aber Value-Aktien haben – gemessen am MSCI World Value-Index – nur halb so grosse Verluste eingefahren wie der MSCI-World-Growth-Index – und sich auch besser als der MSCI-World-Index entwickelt.  

Growth muss sich nicht zwingend fortsetzen  

Im aktuellen Marktumfeld hat Value seine Berechtigung. Noch ist aber viel Skepsis vorhanden, weil rein auf Value-Titel ausgerichtete Anlagestrategien die letzten zehn Jahre keine Überrendite gegenüber Wachstumswerten oder dem Gesamtmarkt erbracht haben.  

Über den Autor

Stefan Brugger stieg 2007 als Portfoliomanager ins Global-Equity-Team von Union Investment ein und übernahm die Verantwortung für den Finanzsektor. Seit 2009 ist er zudem globaler Research-Koordinator für diesen Sektor. Nach einer Ausbildung zum Bankkaufmann bei der Hypovereinsbank in München absolvierte Stefan Brugger sein Studium der Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Investmentbanking und Kapitalmärkte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Deutschland. Während seines Studiums verbrachte er ein Semester an der Ocean University of China in Qingdao. Von 2006 bis 2007 absolvierte Stefan ein Traineeprogramm im Portfoliomanagement bei Union Investment. Brugger ist ein CFA Charterholder.  

Feiert die substanzorientierte Anlage ihr Comeback? Das hängt primär davon ab, ob der Value-Stil strukturell in den kommenden Jahren besser abschneidet als in den letzten Dekaden. Es gibt allerdings einige Gründe, die dafür sprechen, dass die von den US-Investoren Benjamin Graham und David Dodd geprägte Anlagestrategie etwas von ihrer früheren Attraktivität zurückerhält. Denn: Im langfristigen historischen Vergleich haben Value-Aktien tendenziell etwas besser abgeschnitten als Wachstumsaktien.

Die bessere Wertentwicklung von «Growth», wie sie lange Jahre zu beobachten war, muss sich nicht zwingend fortsetzen. Nach grossen Krisen kam es am Aktienmarkt historisch gesehen oft zu Regimewechseln. So haben nach der Asienkrise 1997 Technologiewerte zum Beispiel deutlich besser abgeschnitten als Value-Titel. Nach dem Platzen der Dotcom-Blase zu Beginn dieses Jahrtausends war Value gesucht, fiel dann aber nach der globalen Finanzkrise in Ungnade.

Treibende Kraft für die seit der Finanzkrise bis 2021 anhaltenden Rally der Wachstumsaktien waren die sinkenden Zinsen und Renditen an den Anleihemärkten sowie niedrige Inflationsraten. Und: Die Unternehmen hatten immer zu viel Angebot und zu wenig Nachfrage. Darum wurde weniger investiert, etwa in den Kapazitätsausbau.

Dann kam die Corona-Krise, und die Unternehmen haben ihre Kapazitäten weiter zurückgefahren – zum Teil zu weit: Von der sprunghaften Erholung der Nachfrage nach den Lockerungsmassnahmen wurden sie überrollt.    

Zinswende spielt Value-Aktien in die Karten  

Mit dem Ausklingen der Corona-Pandemie in den meisten Weltregionen kehrte so eine alte, fast vergessene Bekannte zurück: die Inflation. Auch hat die Globalisierung als eine in der Vergangenheit wichtige Treiberin für Deflation ihren Höhepunkt überschritten. Aufgrund der Verwerfungen in den Lieferketten und geopolitischen Risiken wird wieder mehr Produktion zurückverlagert. Dies führte zu steigenden Inflationsdruck und in der Folge zu steigenden Zinserwartungen.

Das ist für Wachstumstitel ein Dämpfer: Weil dort die Bewertung viel künftiges Gewinnwachstum vorwegnimmt, fällt der Zins als Diskontierungsfaktor stark ins Gewicht. Steigen die Zinsen, sind zukünftige Gewinne heute weniger wert. Das belastet an den Börsen die Kurse von Wachstumsaktien.  

Für Anlegerinnen und Anleger ist diese Rotationsbewegung ein Fingerzeig: In den grossen US-Börsenindizes haben Wachstumstitel durch ihre aussergewöhnliche Wertentwicklung ein grosses Gewicht erlangt. Mit der Corona-Pandemie haben sich nun Trends beschleunigt, die womöglich eher Value-Aktien in die Karten spielen. Kommt es zu einem strukturell grösseren nominalen Wirtschaftswachstum, wie einige Volkswirte dies auf längere Sicht – nicht für die kommenden Monate – erwarten, dürften es mehr Unternehmen schaffen, auskömmlich zu wachsen. Damit nimmt die Knappheit des Wachstumsfaktors ab. Eine Bewertungsprämie für Growth-Aktien ist weniger gerechtfertigt.  

Hinzu kommt: Viele Growth-Aktien waren mit Technologie-Aktien gleichzusetzen. In der Pandemie haben viele strukturelle Wachstumsthemen der letzten Jahre wie Online-Konsum oder das Bezahlen mit Karte statt Cash stark profitiert. Aus langfristiger Sicht wurde dabei aber nicht wirklich neues Wachstumspotenzial erschlossen, sondern nur bestehendes Potenzial schneller ausgeschöpft.

Damit stellt sich die Frage, ob diese Unternehmen in Zukunft überhaupt noch so kräftig wachsen wie bislang erwartet. Die jüngsten Unternehmensberichte, etwa von Netflix oder Amazon, haben gezeigt, dass bei den sogenannten FAANG-Aktien das Wachstumspotenzial mittlerweile grösstenteils ausgeschöpft ist. Bei vielen Wachstumswerten kommt der Zeitpunkt, an dem Geschäftsmodelle von einem Growth- in ein Value-Modell übergehen. Ab dann wird die Profitabilität die bedeutendere Werttreiberin als das Umsatzwachstum. Da der Wettbewerbsdruck eher zunimmt, könnten die Tech-Unternehmen den Höhepunkt ihrer Profitabilität bereits überschritten haben.  

Aktuell schlägt daher die Stunde der Substanzaktien. Die im Value-Segment verhältnismässig stark vertretenen Unternehmen, etwa aus der Finanz- und Energiebranche, sind die Profiteure von anziehender Inflation und höheren Ölpreisen. Die Unternehmensgewinne steigen im Value-Bereich gegenwärtig stärker als im Wachstumssegment, das zuletzt eher enttäuschte. Value-Unternehmen verkaufen Produkte und Dienstleistungen, die sich bereits bei den Verbrauchern und Verbraucherinnen bewährt haben und mit denen die Unternehmen schon heute ausreichende Gewinne und Mittelflüsse erwirtschaften können.  

Fokus auf Dividenden und Aktienrückkäufe  

Was bedeutet dies aus Sicht der Anlegenden? Investoren und Investorinnen werden bei Value-Aktien für das niedrigere Wachstum entschädigt, indem sie einen Grossteil des langfristig erwarteten Aktienertrags (der Value-Titel) von 6 bis 8 Prozent über Dividenden oder Aktienrückkäufe erhalten. In Krisenzeiten können Value-Werte aus defensiveren Sektoren mit geringeren Gewinnschwankungen womöglich mehr Interesse von Anlegenden auf sich ziehen, etwa von solchen aus den Bereichen Pharma, Basiskonsumgüter und Telekommunikation. T

rotzdem entspricht die Bewertung von Value-Werten derzeit nach wie vor dem langfristigen Durchschnittsniveau. Im Vergleich zu den mit einer Prämie gehandelten Growth-Aktien haben Value-Titel daher etwas mehr Puffer auf der Bewertungsseite, sollten die Zinsen weiter steigen.

Und nach welchen Kriterien werden die Titel ausgewählt? In der Bottom-up-Analyse sind drei Kriterien ausschlaggebend:  

  • Bewertung basierend auf dem langfristigem Gewinnpotenzial  
  • Spezifischer identifizierbarer Auslöser für eine Neubewertung – also ein Katalysator für eine mögliche Höherbewertung  
  • Qualität, um sogenannte Value-Traps in Unternehmen zu vermeiden, deren Geschäftsmodell langfristig gefährdet ist

Die Philosophie des Value-Ansatzes ist es, Unternehmen zu identifizieren, bei denen die Gewinne temporär unter ihrem langfristigen Potenzial liegen, und zu verkaufen, wenn die Gewinne über das Potenzial steigen. Das Portfoliomanagement analysiert unternehmensspezifische Zyklen, denen ein marktwirtschaftlicher Anpassungsprozess zugrunde liegt. So unterliegen etwa insbesondere zyklische Unternehmen Schwankungen in Angebot und Nachfrage, die am Markt über den Preis reguliert werden. Ist die Profitabilität in einer Industrie hoch, werden viele neue Kapazitäten aufgebaut. Ist die Profitabilität niedrig, werden Kapazitäten geschlossen oder ganze Unternehmen werden insolvent.  

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Dabei bevorzugen die Fondsmanager etwa Gesellschaften mit einer guten Marktposition, die im Sektorvergleich eine höhere Profitabilität zeigen. In den vergangenen beiden Jahren, in denen die Konsumentinnen und Konsumenten aufgrund von Lockdowns viel Zeit zu Hause verbrachten, stieg die Güternachfrage stark an. Entsprechend gut lief das Geschäft für Baumarktketten, aber auch für Hardwareanbieter von Computern, Druckern oder Handys. Die entsprechenden Unternehmen haben Gewinne über ihrem langfristigen Potenzial erwirtschaftet.

Inzwischen sind die meisten Haushalte damit gut versorgt, und stattdessen spielen Freizeitaktivitäten ausser Haus wieder eine grössere Rolle. Dies trägt dazu bei, dass auch Dienstleistungen wieder stärker gefragt sind und die Gewinne jetzt bei Unternehmen steigen, die aufgrund der Corona-Einschränkungen deutlich unter Potenzial verdient haben.  

Verhaltensökonomie als mögliche Renditequelle  

Das Fondsmanagement bedient sich auch verhaltensökonomischer Ansätze und nutzt den Contrarian-Ansatz: Wenn ein Unternehmen gerade eine schwierige Phase durchläuft und die Gewinne unter Druck stehen, ist die Wahrscheinlichkeit grösser, dass es in die Auswahl kommt, als wenn das Unternehmen auf Höchstleistung getrimmt und entsprechend bewertet ist. Ziel ist es, Marktineffizienzen auszunutzen.

Oft wenden sich Investorinnen und Investoren aufgrund eines gesteigerten Verlustempfindens von Unternehmen ab, die Schwierigkeiten haben, und übersehen womöglich Wendepunkte zum Besseren. So laufen auch Konsensschätzungen von Analysten und Analystinnen oft der Entwicklung hinterher, was dazu führen kann, dass am Markt Verbesserungen übersehen werden. Ebenso wichtige Erfolgsfaktoren sind ein stringentes Risikomanagement und eine optimale Ausführung der Transaktionen. Die Einbettung in ein breites, erfahrenes Research-Team erleichtert diese Aufgabe.

Unterm Strich ergibt sich also folgendes Fazit: Value-Aktien hatten es viele Jahr schwer und zählten überwiegend zu den Verliererinnen der Corona-Pandemie. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Umbrüche, ausgelöst durch die historisch hohe Inflation und den Ukraine-Krieg, sind Substanzwerte mittlerweile aber wieder gefragt. In Krisenzeiten sind bewährte Geschäftsmodelle vorteilhaft, die weniger konjunktursensitiv sind und gleichzeitig stabile Cashflows für ihre Aktionäre und Aktionärinnen generieren. Daher sollten Value-Aktien in einem diversifizierten Aktienportfolio nicht fehlen.         

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