Es ist eine bahnbrechende technologische Neuerung: ein biologischer Chip, der sich in einer Tablette befindet. Und ein Signal abgibt, sobald die Tablette im Magen angekommen ist. «Es ist faszinierend, was in diesem Bereich passiert», sagt Pfizer-Chef Albert Bourla in einem Videoschnipsel, der am Freitag auf Twitter viral ging.
Das Echo war enorm: 22’400 Retweets, 13’100 Retweets mit Kommentaren wie: «Und wir, die Verschwörungstheoretiker, sollen die Spinner sein.» Oder: «Dieser Mann ist eine Gefahr für die Welt. Er ist autoritär, unethisch und unmoralisch.» Viele, die das Video kommentieren oder teilen, nehmen offenbar an, das Video meine eine Entwicklung im Zusammenhang mit Corona. Schliesslich lautet eine der mächtigsten Verschwörungstheorien, dass Bill Gates Menschen per Covid-19-Impfung einen Chip einpflanzen würde.
Das WEF-Video mit Pfizer-Chef Albert Bourla ist von 2018
Doch das Video ist vier Jahre alt und stammt damit aus der Zeit vor der Corona-Pandemie, wie die Zeitung «USA Today» schreibt. Es geht in der Aussage von Pfizer-Chef Bourla nicht um Covid-19, sondern um Schizophrenie, bipolare Störungen und Depressionen.
Und um eine neuartige Möglichkeit, die Compliance zu überprüfen, frei übersetzt: ob Medikamente zum Beispiel von psychisch kranken Menschen regelmässig und nach Rezept eingenommen werden.
Mit Video-Ausschnitt werden die Ängste von Corona-Leugnern bedient
Gepostet hat den Videoausschnitt ein gewisser Jeremy Loffredo, der für eine Webseite namens «Rebel News» schreibt. Das ist eine Website, die häufiger als kanadische Version von «Breitbart» beschrieben wird. Die Ausrichtung ist populistisch, extrem rechts, lieferte in den Anfängen anti-islamische Berichte und fokussiert sich jetzt auf «alternative» Berichte für Corona-Leugner.
Mit seinem Post spielt Loffredo offenbar auf der Klaviatur der Ängste von Menschen, die der Verschwörungstheorie rund um Chips in der Covid-19-Impfung zuneigen.
Dabei ging es in dem Gespräch vor vier Jahren um etwas ganz anderes. Pfizer-Chef Bourla sprach am WEF über Abilify Mycite, das erste Medikament mit einem digitalen Tracking-System, das 2017 von der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA zugelassen wurde.
Das Medikament selbst gab es dabei schon seit 2002, zunächst nur ohne digitales Tracking-System. Es stammt auch nicht von Pfizer, sondern vom japanischen Pharmaunternehmen Otsuka Pharmaceutical.
Digitale Medikamente – eine grosse Hoffnung
In der Entwicklung von Otsuka lag grosse Hoffnung, und das ist es, was Pfizer-Chef Bourla in dem kurzen Videoausschnitt zum Ausdruck bringt.
Die Hoffnung, ein grosses und teures Problem zu lösen: In den USA hält sich die Hälfte der Patientinnen und Patienten nicht an das vom Arzt verschriebene Regime. 20 bis 30 Prozent der verschriebenen Medikamente werden nicht in der Apotheke abgeholt. Die Kosten für nicht gebrauchte Medikamente gehen in die Milliarden, die gesundheitlichen Folgen sind enorm.
Bei psychisch kranken Menschen kommt es immer wieder vor, dass sie ihre Medikamente auf eigene Faust absetzen, sobald es ihnen etwas besser geht. Psychopharmaka haben oft starke Nebenwirkungen wie Schläfrigkeit oder Konzentrationsschwäche, das ist verständlicherweise unangenehm für die Patienten. Ein Chip zur Überwachung der Einnahme könnte helfen, Lücken in der Medikamenteneinnahme aufzuzeigen.
Der Chip von Abilify Mycite sendet ein Signal aus
Bei Abilify Mycite von Otsuka Pharmaceutical war die Idee, dass der Chip ein Signal aussendet, das von einem Patch empfangen wird, das der Patient auf dem Körper trägt. Von dort aus sollten die Daten aufs Mobiltelefon geladen werden, wo sie vom Patienten und allenfalls auch vom Arzt eingesehen werden können.
Das Psychopharmakum mit dem integrierten Chip sollte die Medikamenteneinnahme revolutionieren. Ein Jahr nach der Zulassung investierten die Japaner 88 Millionen Dollar in eine Kollaboration mit Proteus Digital Health. Das US-Unternehmen hatte die Sensortechnologie entwickelt hat, die Abilify MyCite zugrunde liegt. Das Ziel: die Technologie auf andere Medikamente anzuwenden und eine Serie digitaler Psychopharmaka auf den Markt zu bringen.
Novartis investierte in die Technologie vom biologischen Chip
Proteus Digital Health war ein Senkrechtstarter im Silicon Valley. Dem Unternehmen gelang es, Kapital in der Höhe von einer halben Milliarde Dollar aufzunehmen. Zu den Investoren gehörten Family Offices, aber auch der Basler Pharmakonzern Novartis.
Die Basler hatten 2010 unter dem damaligen Entwicklungschef Trevor Mundel 24 Millionen Dollar in Proteus investiert. In Spitzenzeiten erreichte Proteus Digital Health eine Bewertung von sagenhaften 1,5 Milliarden Dollar. Die Hoffnung war, dass sich die Sensortechnologie auch auf andere Therapiegebiete und Medikamente wie Onkologie oder Neurologie anwenden lasse.
Doch in der Praxis waren die Dinge komplizierter. Abilify MyCite enttäuschte, die Umsätze blieben weit unter dem, was man sich bei Otsuka Pharmaceutical erhofft hatte. Im Januar 2020 berichtete das Branchenportal «Statnews», die japanisch-amerikanische Zusammenarbeit sei vorzeitig beendet worden. Das Unternehmen sei nun in der Lage, die Entwicklung digitaler Medikamente unabhängig voranzutreiben, zitierte das Portal einen Sprecher von Otsuka Pharmaceutical.
Patienten mochten den nötigen Patch nicht
Tatsächlich harzte es bei dem revolutionären Medikament aber wohl in der Praxis, wie «Statnews» schreibt. Die Sensortechnologie aus dem Silicon Valley passte oft nicht in die Arbeitsabläufe von Kliniken. Einige Patienten mochten es nicht, den benötigten Patch zu tragen. Ärzte waren mit der Menge an Daten überfordert, die das System neben dem ursprünglichen Datenpunkt, der Medikamenteneinnahme, auch noch übertrug.
Im August 2020 dann beantragte Proteus Digital Health Konkurs und der Ex-Kooperationspartner Otsuka Pharmaceutical kaufte die Assets für 15 Millionen Dollar.
Die Euphorie, die Pfizer-Chef Bourla 2018 noch spiegelte, haben die digitalen Medikamente vorerst nicht aufrechterhalten können. Dennoch, die Technologie an sich könnte in Zukunft grosse Chancen für Patientinnen und Patienten bedeuten.