«Dies ist ein grossartiger Moment für dieses Land. Wir haben die Freiheit in unseren Händen, und es liegt nun an uns, das Beste daraus zu machen», sagte Premierminister Boris Johnson in seiner Neujahrsansprache ans britische Volk. Grossbritannien könne Dinge nun anders machen - «und wenn nötig besser als unsere Freunde in der EU».
Mit dem Jahreswechsel endete die elfmonatige Übergangsphase seit dem EU-Austritt, in der noch weitgehend die gleichen Regeln galten. Nun wurde die wirtschaftliche Scheidung vollzogen. In einem Gastbeitrag für den britischen «Telegraph» bezeichnete Johnson den in letzter Minute ausgehandelten Handelspakt mit der EU als "grossen Gewinn für beide Seiten des Kanals". Man könne nun endlich aufhören, sich über Europa aufzuregen.
Grosse Brexit-Jubelfeiern mussten coronabedingt ausbleiben. Die Hauptstadt an der Themse blieb in der Neujahrsnacht auffällig ruhig. Doch die Glocken der Turmuhr Big Ben, die eigentlich derzeit restauriert wird, schlugen um 23 Uhr Ortszeit (Mitternacht Brüsseler Zeit) ausnahmsweise, um die neue Ära einzuläuten.
Grossbritannien war nach 47 Jahren Mitgliedschaft bereits Ende Januar 2020 aus der EU ausgetreten. Das in letzter Minute mit der EU ausgehandelte Handels- und Partnerschaftsabkommen soll den Bruch verträglich gestalten. So gelten im Warenhandel auch künftig keine Zölle und Mengenbeschränkungen. Zudem regelt der knapp 1250 Seiten starke Vertrag viele weitere Themen, darunter Fischfang und Zusammenarbeit bei Energie, Transport, Justiz, Polizei. Grossbritannien bleibt an viele europäische Standards gebunden. Das Parlament in London billigte das Abkommen kurz vor dem Jahreswechsel im Rekordtempo, auf EU-Seite wird es vorerst vorläufig angewendet, weil die Zeit für die Abstimmung im Europaparlament nicht reichte.
Trotz des Handelspakts gibt es auf beiden Seiten des Ärmelkanals nun grosse Änderungen. Umzüge werden erschwert, auch die Visafreiheit bei Reisen ist künftig zeitlich begrenzt. So werden an den Grenzen künftig Kontrollen nötig, weil Standards überprüft werden müssen, unter anderem bei Agrarprodukten.
Am Neujahrstag blieben befürchtete Verzögerungen im Lkw-Verkehr über den Ärmelkanal aus. Die Lage am Eurotunnel sei ruhig gewesen, sagte ein Sprecher des Betreibers Getlink der Deutschen Presse-Agentur. Man rechne erst im Laufe des Januars mit einem erhöhten Verkehrsaufkommen, da noch nicht viele Unternehmen direkt nach dem Jahreswechsel führen.
Die Behörden hatten zuvor angekündigt, die Regelungen anfangs recht locker zu handhaben. «Die Regierung kann nicht erwarten, dass Unternehmen in der Kürze der Zeit alle Formalitäten bereit haben», sagte Tudor Price, Vizechef der Handelskammer der südostenglischen Grafschaft Kent.
Eine Wiederholung des Chaos, wie es vor und an Weihnachten in der Grenzregion Kent zu beobachten war, soll unbedingt vermieden werden. Tausende von Fernfahrern hatten tagelang in ihren Lastwagen ausharren müssen, weil Frankreich die Grenze überraschend geschlossen und von allen Einreisenden einen negativen Corona-Test verlangt hatte. Grund war die Entdeckung einer neuen und womöglich hochansteckenden Coronavirus-Variante im Süden von England.
Mit vielen Emotionen verabschiedete sich in der historischen Nacht Schottland aus der EU. «Schottland wird bald zurück sein», schrieb Regierungschefin Nicola Sturgeon bei Twitter. «Lasst das Licht an.» Dazu schickte sie ein Foto, das die Wörter «Europa» und «Schottland» mit einem Herzen verbunden auf das Gebäude der EU-Kommission projiziert zeigt. Sturgeon strebt die Loslösung von Grossbritannien und die Rückkehr in die EU an.
Auf den letzten Drücker gab es an Silvester auch noch eine Einigung für das britische Überseegebiet Gibraltar: Spanien und Grossbritannien verständigten sich darauf, dass Gibraltar dem Schengen-Raum ohne Grenzkontrollen beitritt. Damit werde vermieden, dass die Grenze zwischen Spanien und Gibraltar am Südzipfel der Iberischen Halbinsel ab dem 1. Januar 2021 zu einer undurchlässigen EU-Aussengrenze werde, erklärte das spanische Aussenministerium.
Für Gibraltar gilt der Brexit-Handelspakt nicht. Stattdessen wird sich Gibraltar enger an Spanien und die EU binden. Beim Brexit-Referendum 2016 hatten 96 Prozent der 33 000 Einwohner Gibraltars für den Verbleib in der EU gestimmt.
(awp/tdr)