Chinas radikale Massnahmen im Kampf gegen die neuartige Lungenkrankheit sorgen für grosse Verwirrung und bereiten europäischen Unternehmen im Land enorme Probleme. Die EU-Handelskammer in China teilte am Dienstag in Peking mit, dass widersprüchliche Regeln lokaler Stellen es extrem schwierig machten, die Arbeit diese Woche nach den – wegen des Virus verlängerten — Ferien über das chinesische Neujahrsfest wieder aufzunehmen.
«Das Ausmass der Herausforderungen ist riesig», sagte Kammerpräsident Jörg Wuttke vor Journalisten. Lieferketten seien unterbrochen. Auch könnten Produkte nicht verschifft werden, was einen Berg von Papieren erfordere. «Es ist ein logistischer Alptraum», sagte Wuttke. Waren könnten nicht an den Kunden und auch nicht an den Verbraucher gebracht werden. Wuttke appellierte an die chinesische Seite: «Hört auf, widersprüchliche Vorschriften im ganzen Land zu haben.» Das Vorgehen der Behörden müsse besser abgestimmt und koordiniert sein.
Eigentlich hatte Chinas Premier Li Keqiang schon vor einer Woche dazu aufgerufen, «die Arbeit wieder aufzunehmen» und die Versorgung mit notwendigen Gütern sicherzustellen. Angesichts von inzwischen mehr als 70 000 Infektionen und fast 1900 Toten durch das Sars-CoV-2 genannte Virus sind die Massnahmen zur Abschottung im Land aber eher noch verschärft worden. Der EU-Kammerpräsident geht davon aus, dass die schwere Gesundheitskrise in der zweitgrössten Volkswirtschaft «so schnell nicht vorbei» sein wird.
Engpässe auf Weltmarkt
Auch auf dem Weltmarkt kommt es zu Engpässen mit Ersatzteilen aus China. Da es kaum Flugzeuge und Schiffe gebe, könnten Waren nicht verschifft werden. «Sachen aus China herauszubekommen, ist herausfordernd», sagte Wuttke. Da Chinas pharmazeutische Industrie ebenfalls schwer betroffen sei, könnte es weltweit zu Engpässen bei Antibiotika und anderen Medikamenten kommen.
Völliges Unverständnis äusserte die Handelskammer über den Zwang zu 14-tägiger Quarantäne in Peking für Reisende aus dem Ausland und aus dem Rest Chinas. Wuttke sagte: «Es ist schon komisch, dass ich in Peking ein Flugzeug besteigen kann und in Frankfurt nicht in Quarantäne komme.» Aber umgekehrt müssten Reisende aus Deutschland, das nicht vom Virus betroffen sei, in Chinas Hauptstadt in Isolation.
Die am Freitag erlassene Verfügung stehe auch im Widerspruch zu den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). «Wer wird denn noch in Frankfurt in ein Flugzeug nach China steigen, wenn er hier in Quarantäne kommt», fragte Wuttke. Die Anweisung schade dem Geschäft. «Wir sind definitiv sehr besorgt.»
Besonders kleine und mittelständische Unternehmen seien von der Krise schwer betroffen. Viele könnten vielleicht nur zwei bis drei schlechte Monate verkraften. So drohten Pleiten, wenn nicht der Staat mit Krediten und anderer Unterstützung zur Hilfe komme. «Wenn diese Krise noch einen Monat oder so anhält, wird es verheerend für kleine Unternehmen», sagte Paul Sives, Vertreter der Kammer in Südwestchina.
Fehlt an Zulieferern
Während einige Unternehmen wieder anfingen zu arbeiten, fehle es an Zulieferern. In einem Industriepark in seiner Region hätten erst 5 von 50 Unternehmen den Betrieb wieder aufgenommen. «Der Domino-Effekt ist katastrophal.» Aber jeder lokale Bezirk habe seine eigenen Regeln, wie die Produktion wieder angefahren werden dürfe.
Ein Beispiel: Einige örtliche Stellen verlangten, dass Mitarbeiter zwei Gesichtsmasken am Tag hätten. Die Firma müsse einen Vorrat für zwei Wochen nachweisen. Andere Behörden forderten, dass Beschäftigte alle vier Stunden die Maske wechselten, was den Weg zu und von der Arbeit einschliesse. Es gebe aber nicht genug Masken in China, was die Unternehmen daran hindere, die Arbeit wieder aufnehmen zu können.
«Bürokratie und Verwirrung sind die wichtigsten Worte, die wir von unseren Mitgliedern hören», sagte Carlo D'Andrea, Vertreter der EU-Kammer in Shanghai. Ein Problem seien schon die Heizungen, die in den Bürohäusern ausgestellt blieben, weil befürchtet werde, dass das Virus durch die Ventilation verteilt werden könne. Es könne nicht gearbeitet werden, weil Beschäftigte bei viel zu kalten Temperaturen im Büro sässen und sich auf diese Weise erkälten könnten.
Epidemie ist ein «Weckruf»
Für viele Unternehmen sei die Epidemie ein «Weckruf», sagte Wuttke. Es werde realisiert, dass die Abhängigkeit von China zu gross sei, «wenn dieses Land den Bach runtergeht». So werde überlegt, «nicht alle Eier in ein Nest zu legen» und in den nächsten Jahren stärker zu diversifizieren. Ohnehin hätten Unternehmen wegen des Handelskrieges zwischen den USA und China in den vergangenen ein, zwei Jahren schon begonnen, sich auch in anderen Ländern umzuschauen.
Der Stillstand in China und die strengen Quarantäneregeln in Peking behindern auch die Kooperation zwischen China und Europa. Ob es zu dem geplanten Besuch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 30. März in Peking komme, «bleibt abzuwarten», sagte Wuttke. Auch gibt es Sorge, dass die Gespräche über das geplante Investitionsschutzabkommen zwischen beiden Seiten nicht vorankommen. So kann das EU-Verhandlungsteam nicht mehr nach Peking reisen.
(awp/mlo)