Soll der Bundesrat die Zertifikatpflicht weiter verschärfen? Oder gar Restaurants und Läden erneut schliessen? So etwas hätte auch wirtschaftliche Folgen. Einschätzungen dazu erarbeitet das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Es tut dies unter anderem mithilfe einer jungen Disziplin, der Auswertung von sogenannten hochfrequenten Daten. Das Resultat ist ein neuer Pulsmesser: der Index der wöchentlichen Wirtschaftsaktivität (WWA). Derzeit ist er im Fall begriffen.

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Daneben wirkt die Schätzung des laufenden Bruttoinlandprodukts wie ein Schwarzweissfoto aus einer anderen Epoche. Sie kommt quartalsweise heraus und erscheint dazu noch je zwei Monate später als der Zeitpunkt der Momentaufnahme. Die BIP-Schätzung wirkt im Zuge der pandemiebedingt schnellen Veränderungen hoffnungslos veraltet.

SBB-Fahrten, Stromverbrauch, Luftverschmutzung

Hinter dem jungen Seco-Wochenindex stecken Methoden zur Echtzeit-Konjunkturmessung. Neun Subindikatoren sind es: die Nettotonnenkilometer der SBB, die Bargeldbezüge, die Debit- und Kreditkartentransaktionen, die Sichteinlagen der Banken bei der Nationalbank, der Stromverbrauch, die Luftverschmutzung, die Zahl der registrierten Arbeitslosen und die Warenimporte und -Exporte.

Seco WWA

Index zur wöchentlichen Wirtschaftsaktivität, 10. Januar 2022: Wirtschaftsaktivität relativ zum Vorkrisenniveau in Prozent.

Quelle: Seco

Die Überlegung des Seco: Der Politik soll eine moderne Grundlage geboten werden, um in der Krise gute Entscheide zu treffen. Denn gut geschätzte wirtschaftliche Auswirkungen der Pandemiemassnahmen zeigen, wie stark die Wirtschaftsakteure bei harten
Massnahmen leiden könnten. Der volkswirtschaftliche Schaden lässt sich schliesslich dem erwarteten Schaden an Gesundheit und Leben gegenüberstellen. Je nach Abwägung entscheidet der Bundesrat zugunsten von Schliessungen – oder sieht davon ab. Wie in diesen Tagen.

Knallharte Überlegungen

In der ersten Corona-Welle, im Frühjahr 2020, gab es diesen Echtzeitindikator der Wirtschaftsaktivität noch nicht. Das Seco suchte in der Folge Zugang zu Daten auf Tages- oder Wochenbasis, die bei Unternehmen verfügbar sind. Geprüft wurde der konjunkturrelevante Informationsgehalt verschiedener Datenströme, etwa die Zahl zugestellter Pakete, die Passagierzahlen an den Flughäfen, Konkursanmeldungen und Baubewilligungen. Am Ende beschränkte sich das Seco die genannten neun Faktoren.

Im Herbst 2020, in der zweiten Infektionswelle, kamen die Daten dann erstmals zum Einsatz. Aus dem Umfeld des Covid-19-Taskforce weiss die «Handelszeitung»: Der Bundesrat musste eine «knallharte Abwägung zu treffen», nämlich die der erwarteten Covid-19-Toten versus dem geschätzten Wirtschaftsschaden. Vor Weihnachten beschloss der Bundesrat den partiellen Lockdown.

Die Bilanz war damals klar. Die Zahlen zeigten, dass die Schliessung von Restaurants volkswirtschaftlich betrachtet den kleinere Schaden verursache also die Summe der Gesundheitsschäden. Die bundesrätliche Covid-19-Taskforce lieferte die Zahlen dazu. Die Wirtschaftsdaten stammten aus zwei Quellen: vom Seco sowie einer zweiten Quelle, der Konjunkturforschungsstelle der ETH (KOF).

Pioniere im Land

Das Seco und die KOF sind die Vorreiter von schweizerischen Echtzeitprognosen. Beide Institutionen beziehen ihre Daten teils aus den gleichen, teils aus unterschiedlichen Quellen. Einer der wichtigsten ist die Finanzinfrastrukturbetreiberin SIX. Sie publiziert Bankomat- und Kartentransaktionsdaten gratis. Diese werden von monitoringconsumption.com aufbereitet, einer Initiative von Wirtschaftsprofessoren und Forschern unter anderem aus St. Gallen.

Selbst die Nationalbank und das Statistische Amt des Kantons Zürichs beziehen von SIX Daten für eigene Echtzeit-Prognosen. Daraus macht das erwähnte Zürcher Statistikamt beispielsweise einen «Echtzeitindikator zur Gastronomie». Dieser zeigt wie gut oder schlecht es um Bars, Restaurants und Hotels steht.

Echtzeitindikator der Gastronomie des Kantons Zürich

Echtzeitindikator der Gastronomie des Kantons Zürich: Es geht ihr noch gut.

Quelle: zvg Statistisches Amt des Kantons Zürich

Auch die KOF greift auf diese Kartentranskationsdaten der SIX zurück. Doch das ETH-Institut geht viel weiter in ihrer Prognose als das Seco oder das statistische Amt. Sie macht daraus einen wöchentlichen BIP-Indikator («KOF WBI»), der seit dem Frühjahr 2021 publiziert wird. Dieser Indikator bringt traditionelle Konjunkturindikatoren mit Echtzeitdaten zur Wirtschaftslage zusammen und greift auf bedeutend mehr Daten zurück als der Seco-Wochenindex. Er enthält unter anderem die Fahrzeugfrequenz auf Autobahnen. Die Zahlen dazu liefert das Bundesamt für Strassen (Astra). Der laufende Stromverbrauch stammt vom Netzbetreiber Swissgrid, die Daten zur Luftverschmutzung kommen von der Stadt Zürich.

Um zu vergleichen, wie gut es der Schweiz geht im Vergleich zum Ausland, errechnet die KOF zudem BIP-Echtzeitprognosen für alle Länder Europas. Diese  findet man auf einer neuen Internetseite genannt «The Nowcasting Lab».

KOF-BIP-Echtzeitindikator KOF WBI am 3.1.2022

Der Verlauf des KOF-BIP-Echtzeitindikators genannt KOF WBI, aufgerufen am 3.1.2022 auf Nowcastinglab.org

Quelle: zvg Nowcastinglab.org

Die meisten Daten stammen vom Tag selber, einige weniger sind ein bis drei Tage alt, wenn man sie online abruft. 19 Einzeldatenströme sind herunterladbar vom «High Frequency Economic»-Monitoring. (kofdata.netlify.app). Darauf kann jedes Unternehmen und jede Behörde eigene Modelle und Anwendungen bauen. Der wissenschaftliche und der betriebliche Wettbewerb bleibt gewahrt.

Datenschatz auch für Firmen nutzbar

Fortschrittliche Firmen verwenden bereits Echtzeitdaten zur Steuerung ihrer Leistung. Beispiel Migros und Coop: Sie beurteilten die täglichen Lieferungen und die Beschaffung mithilfe von Echtzeitprognosen. Dies habe man schon zwar schon vor dem Pandemieausbruch gemacht, aber mit der jetzigen stark variierenden Nachfrage wegen der Covid-Massnahmen hätten sie ihre Modelle noch verfeinert, sagen die Grossverteiler.

Ähnlich die Grossbanken. Sie greifen auf neu auf live vorhande Quellen zurück, um Börsenkurse vorherzusagen. Mit guten Prognosen könne etwa im Trading viel Geld verdient werden, heisst es bei der Credit Suisse. Auch steuere man interne Risikomodelle. So prüfte die CS, inwieweit die im Oktober eingeführt 3-G-Zertifikatpflicht sich auf den Wirtschaftsgang und Investments in der Schweiz auswirken dürften. Sie kam zum Schluss, dass mit der 3-G-Zertifikatpflicht kein Konjunktureinbruch drohe. Ergo blieb die Gesamtprognose im Oktober stabil.

Monitoring Consumption

Kartenzahlungen, Geldabhebungen, Mobile-Zahlungen in der Schweiz: Entwicklung bis Januar 2022

Quelle: monitoringconsumption.com

Mit der Einführung der 2-G-Pflicht Anfangs Dezember verdüsterte sich ihre Prognose dann. «Dafür ist nicht allein die 2G-Regel verantwortlich, sondern die generell gestiegene Unsicherheit und Zurückhaltung der Konsumentinnen und Konsumenten durch die Omikron-Variante», sagt CS-Ökonomin Franziska Fischer.

Bei der Verwendung von Echtzeitdaten lauern Gefahren, darunter die Scheinkorrelation. Ein Beispiel: Sank der Privatkonsum nach Weihachten 2020, weil kurz zuvor der Teillockdown eingeführt wurde? Oder sank er, weil der 27. Dezember auf einen Sonntag fiel? Oder weil das Wetter schlecht war? Je mehr Daten, desto schwieriger die Konjunkturprognose, sobald sich konjunkturelle, pandemische, meteorologische und saisonale Effekte überlagern.

«Hochfrequenz-Prognosen sind meist sehr revisionsanfällig», sagt der BAK-Chefökonom Martin Eichler.

«Werden Entscheide politischer Gremien basierend auf solchen Daten getroffen, besteht das erhöhte Risiko einer Fehleinschätzung», ergänzen UBS-Ökonomen. Eine mögliche Folge: Die Meinungen sind noch schnelllebiger. Und die Entwicklung an Finanzmärkten, bei Nationalbanken und in Regierungen wird noch nervöser.

Konjunkturforschung reloaded

Doch bei den Experten überwiegen die positive Bewertung der Echtzeit-Prognosen. «Die Informationsvielfalt wird verdichtet und zugängig gemacht», betont die UBS. «Echtzeitdaten waren während der Covid-19-Krise sehr nützlich, um möglichst zeitnah das Ausmass und die schnelle Erhöhung abzuschätzen», bekräftigt auch die Nationalbank, die die gleichen Quellen verwendet wie das Seco.

Der Zugang zu hochfrequenten Daten erlaube einen Blick wie mit «einer neuen Brille» auf der Nase von Ökonomen, umschreibt der stellvertretende Seco-Direktor Eric Scheidegger den Wert. Sie helfen Behörde, Firmen und der Wissenschaft, das Marktverhalten nahe an der ganz aktuellen Wirtschaftsentwicklung besser zu verstehen. «Zwar sind solche Ansätze kein Ersatz für BIP-Prognosen. Aber die sind ein grosser Schritt nach vorne in der Beobachtung der Wirtschaft», sagt der Chef der Direktion Wirtschaftspolitik.

Die Covid-19-Pandemie habe diesen «grossartigen Innovationsprozess» in den Gang gesetzt. Während der höchsten Ungewissheit im Frühjahr 2020 hätten sich Akteure der Konjunkturanalyse national wie international zusammengerauft. «Innert Wochen entstand eine super Kooperation. Das war eine grossartige Erfahrung», erinnert sich Scheidegger.

Die Bedeutung dieser neuen Möglichkeit könne nicht hoch genug eingeschätzt wären, sagt KOF-Konjunkturforscher Heiner Mikosch. Man stehe noch am Anfang einer Art Revolution der Konjunkturforschung. Jetzt könne jede Firma, die stark von den allgemeinen Wirtschaftsschwankungen abhängig ist, die neuen Daten nutzen und so ihr Verhalten schneller anpassen.

Der nächste Test steht davor. Mit einiger Sicherheit wird die Omikron-Infektionswelle die Reaktivität der Firmen auf die Probe stellen.