Angesichts wachsender Ängste vor einem Chaos-Brexit startet der britische Premierminister Boris Johnson eine diplomatische Offensive. In einem Brief an EU-Ratschef Donald Tusk forderte Johnson am Montagabend offiziell die Streichung der von der EU verlangten Garantieklausel für eine offene Grenze in Irland.

Anstelle des sogenannten Backstops stellte er andere «Verpflichtungen» Grossbritanniens in Aussicht. Was damit gemeint ist, liess er offen.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Die Änderungen am Austrittsvertrag sollen nach Johnsons Darstellung einen ungeregelten Brexit Ende Oktober verhindern. «Ich hoffe sehr, dass wir mit einem Deal ausscheiden werden», schrieb der Regierungschef.

Doch lehnt die Europäische Union Nachverhandlungen oder Änderungen am bereits fertigen Brexit-Abkommen strikt ab. Auf Johnsons Brief gab es am Montagabend auf Anfrage zunächst weder von Tusk noch von der EU-Kommission eine Reaktion.

Johnson telefonierte aber am Montagabend fast eine Stunde lang mit dem irischen Ministerpräsidenten Leo Varadkar, wie Regierungssprecher in London und Dublin mitteilten. Auch ihm sagte Johnson den Angaben zufolge, dass das Austrittsabkommen ohne Änderungen nicht vom britischen Parlament gebilligt werde.

Varadkar bekräftigte seinerseits, dass der Vertrag nicht mehr geöffnet werden könne. Johnson telefonierte darüber hinaus mit dem finnischen Regierungschef Antti Rinne, der derzeit den Vorsitz der EU-Länder führt. Inhaltlich war danach aber ebenfalls keine Bewegung erkennbar.

Als nächstes will Johnson diese Woche mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Paris sprechen. Am Wochenende reist er zum G7-Treffen ins französische Biarritz.

Vorab besprach sich Johnson am Montag mit US-Präsident Donald Trump und unterrichtete ihn über den letzten Stand beim Brexit, wie die britische Regierung mitteilte.

Das Weisse Haus teilte mit, Trump und Johnson hätten sich zudem über Handels- und Wirtschaftsfragen ausgetauscht. Trump habe seine grosse Freude darüber ausgedrückt, Johnson demnächst beim G7-Gipfel in Biarritz zu treffen.

Bekannte Positionen

In seinem vierseitigen Schreiben an Tusk legt Johnson im wesentlichen bekannte Positionen dar. Der Backstop sei undemokratisch und schränke die staatliche Souveränität Grossbritanniens ein.

Er stehe der künftigen Beziehung zwischen Grossbritannien und der EU im Weg und er könne die empfindliche politische Balance der im Karfreitagsabkommen für Irland festgelegten Friedensregelung schwächen, schrieb Johnson. Deshalb könne "der Backstop nicht Teil eines vereinbarten Austrittsabkommens" sein.

Die EU hält den Backstop indes für unverzichtbar, um neue Konflikte auf der irischen Insel zu verhindern. Ziel ist es, nach dem Brexit Grenzposten für Warenkontrollen zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland zu vermeiden.

Der Backstop sieht vor, dass Grossbritannien so lange Teil einer Zollunion mit der EU bleiben soll, bis eine andere Lösung gefunden ist, die Kontrollen überflüssig macht. Für Nordirland sollen zudem teilweise Regeln des Europäischen Binnenmarkts gelten.

Die Brexit-Hardliner in der Tory-Partei fürchten, dass Grossbritannien durch den Backstop dauerhaft eng an die EU gebunden bleiben könnte. Eine eigenständige Handelspolitik wäre so unmöglich.

Johnson schlägt vor, dass sich beide Seiten rechtlich verpflichten, keine Grenzkontrollen auf der irischen Insel einzuführen. Bis zum Ende einer Übergangsperiode sollen «alternative Vereinbarungen» getroffen werden, die Kontrollen überflüssig machen und Teil eines künftigen Handelsabkommens wären.

Für den Fall, dass dies nicht rechtzeitig gelingt, bringt Johnson ins Spiel, «konstruktiv und flexibel zu schauen, welche Verpflichtungen helfen könnten».

Wirtschaftschaos nach hartem Brexit

Johnson hat sich öffentlich verpflichtet, Grossbritannien am 31. Oktober aus der EU herauszuführen, mit oder ohne Abkommen. Doch wächst die Furcht vor schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen für den Fall eines Bruchs ohne Vertrag.

In London war am Wochenende ein internes Papier bekannt geworden, wonach die britische Regierung im Falle eines No-Deal-Brexits einen Mangel an Lebensmitteln, Medikamenten und Benzin befürchtet. Darüber hinaus werde ein monatelanger Zusammenbruch in den Häfen befürchtet - und eine harte Grenze zur Republik Irland.

(sda/mlo)