Nach schwierigen Jahren schliesst die Nato wieder die Reihen und nimmt neben Russland erstmals auch China als strategischen Rivalen ins Visier. Bei ihrem Gipfel äusserten die 30 Mitgliedsstaaten am Montag unter anderem Sorge über Chinas schnelle atomare Aufrüstung, aber auch über koordinierte politische Aktionen Moskaus und Pekings. Wichtig sei deshalb eine enge politische Abstimmung, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie unterstützte das geplante neue Nato-Strategiekonzept. Den Gipfel nannte sie einen Neuanfang.
Denn anders als sein Vorgänger Donald Trump bekannte sich der neue US-Präsident Joe Biden in Brüssel ausdrücklich zur Allianz und zur Beistandspflicht der USA für Europa. Das sei für die USA eine «heilige Pflicht», sagte Biden in Brüssel. «Ich will ganz Europa wissen lassen, dass die Vereinigten Staaten da sind.» Damit soll der teils bittere Streit der Trump-Jahre der Vergangenheit angehören. Doch steckt die Nato mitten in einer Reformdebatte, um die von ihr gesehenen neuen Herausforderungen zu meistern.
«Neues Kapitel» für das Bündnis
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach nach dem Gipfel von einem «neuen Kapitel» für das Bündnis. Die Allianz stehe geschlossen gegen Bedrohungen durch autoritäre Systeme wie in Russland und China und wolle gemeinsam «ihre Werte und Interessen verteidigen». Das gelte besonders in einer Zeit, «in der autoritäre Regime wie Russland und China die auf Regeln basierende internationale Ordnung herausfordern». Biden warnte nach dem Gipfel: «Russland und China versuchen beide, einen Keil in unsere transatlantische Solidarität zu treiben.» Er unterstrich aber auch: «Die Nato steht zusammen.»
Zum Abschluss seiner ersten Europareise trifft Biden am Mittwoch in Genf Kremlchef Wladimir Putin. «Ich werde Präsident Putin zu verstehen geben, dass es Bereiche gibt, in denen wir zusammenarbeiten können, wenn er sich dafür entscheidet», sagte Biden nach dem Nato-Gipfel. «Und in den Bereichen, in denen wir nicht übereinstimmen, klarmachen, was die roten Linien sind.» Die Staats- und Regierungschefs der Nato hätten ihm gedankt, dass er sich jetzt mit Putin treffe. Er habe mit ihnen darüber beraten, welche Themen bei dem Gipfel mit dem Kremlchef angesprochen werden sollten.
Merkel sieht China als «Partner für viele Fragen»
Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel machte deutlich, dass ihre Hauptsorge Russland gilt, zumal Moskau die Nato nicht als Partner, sondern als Gegner sehe. Mögliche Bedrohungen durch China solle man nicht negieren, aber auch nicht überbewerten, sagte die CDU-Politikerin. «Also: Wir müssen da die richtige Balance finden.» Sie fügte hinzu: «China ist Rivale in vielen Fragen. Und China ist gleichzeitig auch Partner für viele Fragen.» Bei China wie auch bei Russland sei neben Abschreckung auch Gesprächsbereitschaft wichtig.
Merkel lobte die geplante Überarbeitung des Nato-Strategiekonzepts. «Ich unterstütze die Absicht, dass ein neues strategisches Konzept erarbeitet wird, das dann die Herausforderungen noch einmal klar beschreibt und die Reaktionen der Nato», sagte die Kanzlerin schon vor dem Gipfel. Im bisherigen Strategiekonzept von 2010 wird China in keinem Wort erwähnt. Das neue soll 2022 fertig sein.
Vor dem Nato-Gipfel 2019 hatte der französische Präsident Emmanuel Macron der Nato den «Hirntod» bescheinigt. Das war einer der Anlässe für die Reformdebatte und das daraus resultierende Konzept Nato 2030. Stoltenberg will unter anderem, dass das Bündnis mehr Fähigkeiten gemeinsam finanziert und sich technologisch modernisiert. Dazu wurden nach Worten Stoltenbergs beim Gipfel erste Weichen gestellt.
Macron sprach nach dem Gipfel von einem Moment strategischer Klärung und von einer wichtigen Etappe, die man sich Ende 2019 gewünscht habe. Auch in Bezug auf China, das als Rivale nun im Kreise der Nato in den Blick genommen werden soll, warnte Macron, man solle sich nicht vom Kern der Arbeit und den zahlreichen Herausforderungen des Bündnisses ablenken lassen. Er verwies darauf, dass die Nato ein Militärbündnis sei, die Beziehung zu China aber weitaus weiter gefasst sei und dass das Land wenig mit dem Nordatlantik zu tun habe.
Biden drängt auf neue China-Politik
Treibende Kraft hinter der neuen Linie der Nato zu China ist US-Präsident Biden. Er sieht das Land als den einzigen Konkurrenten, der eine nachhaltige Herausforderung für ein stabiles und offenes internationales System sein könnte. Nato-Generalsekretär Stoltenberg sagte aber: «Wir treten nicht in einen neuen Kalten Krieg ein und China ist nicht unser Gegner und nicht unser Feind.»
Härter waren die Töne von Stoltenberg und vieler Staats- und Regierungschefs gegen Russland. Der kanadische Premierminister Justin Trudeau sagte: «Russland ist jetzt schlimmer im Sinne der Kontakte mit Nato-Staaten und störender als in den vergangenen Jahrzehnten. Deshalb müssen wir zusammenstehen.»
Der britische Premierminister Boris Johnson forderte Moskau auf, sein Verhalten zu ändern. «Ich weiss, dass Präsident Biden in den nächsten Tagen einige recht harte Botschaften an Präsident Putin richten wird», sagte Johnson mit Blick auf das Treffen in Genf. Der Gipfel mit Putin in Genf bildet den Abschluss von Bidens erster Auslandsreise als US-Präsident. Am Wochenende war er bereits beim Treffen der G7-Staaten in Grossbritannien mit dabei. Am Dienstag sind in Brüssel Gespräche mit EU-Spitzenvertretern geplant.
(sda/gku)