Es gebe Berechnungen, dass man in diesem Fall das EU-Agrarbudget verdoppeln müsste, um der Ukraine gerecht zu werden. Zudem brauche es Übergangsregelungen wegen der grossen Preisdifferenzen bei einzelnen Agrarprodukten wie Getreide.
«Das bestehende System, wo jedes Hektar gleich viel Unterstützung bekommt, ist für die Zukunft nicht haltbar - mit oder ohne Ukraine», betonte Fischler. «Manche Marktstörungen in der jetzigen EU sind darauf zurückzuführen, dass es auf die Betriebe bezogen eine völlig asymmetrische Förderung gibt», sagte er mit Blick auf die hohen Förderbeträge für Grossbetriebe.
«Meiner Meinung nach müsste man die Flächenprämien in der derzeitigen Form abschaffen und ein neues Konzept entwickeln», forderte Fischler eine tiefgreifende EU-Agrarreform. Schon im Zuge seiner vor der grossen EU-Erweiterung 2004 beschlossenen Reform habe er eine Staffelung und Obergrenze für die flächenbezogenen Agrarzahlungen vorgeschlagen, doch seien damals vor allem Deutschland (wegen der grossen Agrarbetriebe des früher kommunistischen Ostdeutschlands) und Grossbritannien (wegen der adeligen Grossgrundbesitzer) dagegen gewesen.
Fischler: Thema wieder angehen
Nun müsse die EU-Kommission dieses Thema wieder angehen, ebenso wie die Vollendung des bei der Reform 2003 eingeführten Prinzips der «Entkoppelung» der Förderungen vom Aspekt der Produktion. «Genau die Teile der Reform, die ich damals nicht durchgebracht habe, sind jetzt das Problem.» Fischler verwies auch auf die Aspekte Bodenwirtschaft und Viehwirtschaft, die aktuell noch nicht Teil der Bedingungen für EU-Agrarförderungen sind.
EU-weit umfassen die Direktzahlungen zwei Drittel des EU-Agrarbudgets. Dieser Posten solle nicht ersatzlos gestrichen werden, sondern für die Abgeltung höherer Umweltleistungen oder für Sozialprogramme für kleine Betriebe verwendet werden, so Fischler.
Als «grundsätzlich lösbar» bezeichnete Fischler das Problem der Agrarpreisunterschiede zwischen der Ukraine und den EU-Staaten aber nur dann, wenn es lange Übergangsfristen gibt. «Erste Vorboten» des Problems hätten sich in Polen gezeigt. Dort wurde ukrainisches Getreide eingelagert, weil es auf dem Seeweg nicht zu den traditionellen Absatzmärkten im Nahen Osten gelangen konnte. In der Folge hätten die Händler den polnischen Bauern wesentlich niedrigere Preise geboten, was nahezu zu einem Aufstand geführt habe.
Mit Spanien und Portugal bereits Erfahrung
Solche Situationen habe man in der EU aber schon gehabt und gelöst, erinnerte Fischler an den EU-Beitritt von Spanien und Portugal im Jahr 1986. «Da hat man sehr lange Übergangsfristen vereinbart, sodass sich keine groben Marktverwerfungen ergeben haben», sagte der frühere EU-Kommissar. Weil etwa spanische Zitrusfrüchte nur schrittweise auf den europäischen Markt gekommen seien, habe Spanien auch seine Absatzmärkte ausserhalb der EU behalten.
Fischler, der nach seiner Zeit als EU-Kommissar unter anderem als Berater für den damaligen Beitrittskandidaten Kroatien tätig war, glaubt nicht an eine rasche EU-Mitgliedschaft der Ukraine. «Realistischerweise muss man mit einer Dimension von 20 Jahren rechnen, bis eine volle Integration der Ukraine möglich ist», sagte er. «Aber sie brauchen ohnehin 20 Jahre, bis sie den Wiederaufbau geschafft haben.»
Dieser habe eine viel grössere Priorität als die Frage der EU-Agrarzahlungen. In ländlichen Gebieten mangle es aber noch an grundlegender Infrastruktur wie etwa Internetleitungen, Strassen oder Abfall- und Abwasserentsorgungsanlagen. In den urbanen Zentren sei das Land aber schon sehr weit. «Ich bin immer wieder dort und staune, wie gut die Entwicklung ist», so Fischler.