Die steigende Teuerung macht vielen Verbrauchern Sorge. Banker warnen davor, die Preisentwicklung zu unterschätzen. Die Europäische Zentralbank zeigt sich jedoch beharrlich und verweist auf Sonderfaktoren als Inflationstreiber.
Europas Währungshüter lassen sich vom kräftigen Anstieg der Teuerungsraten nicht zu einem rascheren Ausstieg aus der Politik des billigen Geldes drängen. Im Gegenteil: EZB-Präsidentin Christine Lagarde bekräftigte am Freitag, dass die Europäische Zentralbank (EZB) die Wirtschaft auch dann weiterhin unterstützen werde, wenn die akute Pandemie-Notlage beendet sei. Das beinhalte auch eine «angemessene Kalibrierung» der Anleihenkäufe der Notenbank. «Wir werden unsere diesbezüglichen Absichten im Dezember bekannt geben», sagte Lagarde. Der EZB-Rat kommt am 16. Dezember zu seiner nächsten turnusgemässen geldpolitischen Sitzung zusammen.
«Wir nehmen diese Phase der höheren Inflation nicht auf die leichte Schulter», versicherte Lagarde bei einem im Internet übertragenen Bankenkongress. Die Notenbank dürfe aber «angesichts vorübergehender oder angebotsbedingter Inflationsschocks nicht zu einer vorzeitigen Straffung der Geldpolitik übergehen», sagte Lagarde. «In einer Zeit, in der die Kaufkraft bereits durch höhere Energie- und Treibstoffkosten geschmälert wird, würde eine unangemessene Straffung einen ungerechtfertigten Gegenwind für den Aufschwung bedeuten.»
Galoppierende Inflation
Die Teuerungsraten klettern seit Monaten. In Deutschland lagen die Verbraucherpreise im Oktober um 4,5 Prozent über dem Niveau des Vorjahresmonats. Die Inflation in Europas grösster Volkswirtschaft ist damit so hoch wie zuletzt vor 28 Jahren. Auch im Euroraum lag die Inflationsrate mit 4,1 Prozent im Oktober deutlich über dem von der EZB mittelfristig angestrebten Ziel von 2 Prozent.
Der scheidende Bundesbank-Präsident Jens Weidmann mahnte erneut: «Wir sollten das Risiko einer zu hohen Inflation nicht ignorieren und stattdessen wachsam bleiben. Ausserdem sollte die Geldpolitik angesichts der erheblichen Unsicherheit über die Inflationsaussichten nicht zu lange an ihrem derzeit sehr expansiven Kurs festhalten.»
Lagarde bezeichnete die aktuellen Inflationsraten als «unerwünscht und schmerzhaft». Die EZB nehme Sorgen über die Preisentwicklung «sehr ernst» und beobachte die Entwicklung sorgfältig. Zugleich bekräftigte Lagarde die Sichtweise der Zentralbank, ein Grossteil des Inflationssprungs sei durch Sonderfaktoren zu erklären, die sich im nächsten Jahr abschwächen sollten. Die Währungshüter nennen etwa die Erholung der Ölpreise nach dem Corona-Schock und Lieferengpässe infolge gestiegener Nachfrage. Zudem schlägt die Rücknahme der vorübergehenden Mehrwertsteuersenkung in Deutschland durch.
Warnung vor Unterschätzung
Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing antwortet auf Lagardes Vortrag: «Ich glaube, dass wir unterschätzen, dass diese Inflation tatsächlich länger anhalten wird und dass die Inflationsraten höher bleiben werden, als einige Leute und Ökonomen in den vergangenen sechs oder sieben Monaten gedacht haben.» Es gebe «eine strukturelle Inflation», getrieben etwa durch steigende Kosten im Zusammenhang mit dem Klimawandel. Er gehe davon aus, dass die Inflationstrends der vergangenen vier bis sechs Wochen bis in die erste Jahreshälfte 2022 anhalten werden, sagte Sewing und forderte: «Eine Reaktion der Zentralbank sollte früher erfolgen, als wir es gerade gehört haben.»
Kritiker werfen der EZB vor, mit dem vielen billigen Geld die Inflation anzuheizen, die sie eigentlich im Zaum halten will. Der Verwaltungsratschef der französischen Grossbank BNP Paribas, Jean Lemierre, widersprach: «Eine etwas höhere zugrundeliegende Inflation ist nicht schlecht. Sie wird helfen, die Ziele der EZB zu erreichen. Wir haben darauf lange gewartet.» Lemierre betonte: «Die wirkliche Frage von heute ist nicht Inflation. Es tut mir leid, das zu sagen. Die wirkliche Frage ist Wachstum. Werden wir es schaffen, von Erholung auf Wachstum umzuschalten?» Er sei da positiv gestimmt.
Der EZB-Rat will am 16. Dezember entscheiden, wie es mit den milliardenschweren Anleihenkäufen der Notenbank weitergeht. Für Bundesbank-Präsident Weidmann wird es die letzte EZB-Sitzung sein: Er gibt sein Amt nach gut zehn Jahren zum 31. Dezember 2021 vorzeitig auf und scheidet damit auch aus dem EZB-Rat aus.
Nach bisheriger Planung läuft das von der EZB zur Abfederung des Corona-Schocks aufgelegte Kaufprogramm PEPP (Pandemic Emergency Purchase Programme) mit einem Volumen von 1,85 Billionen Euro im März 2022 aus. Im EZB-Rat gibt es Sympathien für die Idee, die Flexibilität dieses Programms auf andere Anleihenkäufe zu übertragen.
Es werde «auch nach dem erwarteten Ende der Pandemie-Notlage wichtig sein, dass die Geldpolitik - einschliesslich einer angemessenen Kalibrierung der Ankäufe von Vermögenswerten - die Erholung und die nachhaltige Rückkehr der Inflation zu unserem Ziel von 2 Prozent unterstützt», erklärte Lagarde.
«Wir sind entschlossen, dafür zu sorgen, dass sich die Inflation mittelfristig bei unserem Ziel von 2 Prozent stabilisiert», betonte Lagarde. «Heute wird die Inflation weitgehend durch die aussergewöhnlichen Umstände, die durch die Pandemie entstanden sind, in die Höhe getrieben.» Daher müsse die Geldpolitik «geduldig und beharrlich bleiben», sagte die EZB-Präsidentin.
(awp/gku)