Das kann doch wohl nicht wahr sein: 1300 Euro für eine Flasche Aceto balsamico!» Giovanna Cati geht im Dachgeschoss ihrer Villa auf und ab. Die Luft riecht süss-säuerlich. Auf dem Boden und auf Regalen türmen sich Holzfässer auf: 438 Stück, von 10 bis 100 Litern, oval und rund, neu und hell sowie pechschwarz und jahrzehntealt. Cati betreibt eine der grössten Acetaie in der Emilia-Romagna in Norditalien.
Wie rund tausend andere Familien im Umkreis der Stadt Modena gehört sie mit ihrer Essigkellerei einer verschworenen Zunft an. Es geht um jahrhundertealte Geschichte und Familiengeheimnisse, um das Hüten von Traditionen und seit Generationen gepflegte Rezepte. Und um viel, viel Zeit. Alles zusammen verwandelt Traubenmost in Aceto balsamico tradizionale di Modena. Eine sirupartige Flüssigkeit, von der schon winzige Tropfen die Geschmacksnerven zum Singen bringen.
Cati ist in Rage, weil ein Sultan, dessen Köche regelmässig bei ihr einkaufen, in Monaco mit billigem Balsamessig betrogen worden sei, «den man in jedem Supermarkt bekommt». Ein Skandal! Er zeigt auch das Dilemma, in dem die 58-Jährige steckt: Sie stellt Essig in homöopathischen Dosen her, um den sich so viele Geschichten ranken, dass der Aussenstehende leicht den Überblick verliert.
Wahr ist, dass aus 100 Kilo Trauben höchstens 100 Milliliter dieses Elixiers gewonnen werden. Und dass der Essig mindestens zwölf Jahre reifen muss, bevor ein Gremium überhaupt bereit ist, seine Qualität zu beurteilen. Auch, dass letztes Jahr nur 4000 Liter hergestellt wurden – eine winzige Menge, verglichen mit dem Multimillionen-Business des günstigen Industrie-Balsamico.
Falsch aber ist, dass Essig besser werde, je länger er reife. «Nach 40 Jahren ist Schluss. Ich habe noch keinen Aceto gekostet, der danach noch besser geworden wäre», erklärt Giovanna Cati. «Dem Sultan haben sie hundertjährigen Essig angedreht», schiebt sie vehement nach. Und ihm für 100 Milliliter mit 1300 Euro zehnmal so viel abgeknöpft, wie sie selbst für ihre besten Tropfen verlangt.
Aber nicht nur das Alter stiftet Verwirrung – auch die Regeln rund um die Herstellung sind kompliziert. Denn nur drei Varianten des Gewürzes sind gesetzlich geschützt. Unzählige andere, deren Erzeugung sich am Essig orientiert, müssen nicht zertifiziert werden. Auf so einen sei jener Sultan hereingefallen, betont Cati.
Zertifiziert und nummeriert. «Solche Geschäfte zerstören den Ruf unserer Branche», klagt auch Dottore Andrea Galeotto, Lebensmittelchemiker und Geschäftsführer des Consorzio produttori antiche acetaie, der Vereinigung der Hersteller für Aceto balsamico tradizionale di Modena. Seit elf Jahren kümmert sich der 40-Jährige um «Leute wie Giovanna, die mit über 400 Fässern jährlich rund 2000 Flaschen herstellen, aber auch um Familien, die mit nur einer oder zwei Batterien für den Eigenbedarf produzieren».
Batterien heissen die sechs Fässer unterschiedlicher Grösse, die man für den Säuerungsprozess benötigt. Sie werden gehegt und gepflegt wie Familienmitglieder – auch wenn manche Essige «schrecklich schmecken und nur wenige unsere Qualitätsstandards erfüllen». Das aber macht den meisten nichts aus. Nur wenige versuchen wie Giovanna Cati, mit Balsamessig Geschäfte zu machen.
Galeotto selbst sitzt auf Tausenden von Flaschen Aceto balsamico tradizionale: Hinter Gittertüren und Alarmanlagen werden unter seinem Büro die zertifizierten Essige der Mitglieder abgefüllt, nummeriert und gelistet. Seit seiner Gründung 1979 dürfen das die Hersteller nicht mehr selbst machen, denn nur das Konsortium kann die Echtheit des traditionellen Essigs garantieren. Erkennungszeichen sind das vom Designer Giugiaro gestaltete 100-Milliliter-Fläschchen, ein nummeriertes Etikett und die offizielle Banderole: gelb mit rot-schwarzen Streifen für über 12-jährigen Balsamico-Essig, goldig für über 25-jährigen.
«Natürlich versuchen viele, von unserem Ruf zu profitieren und sich im Design anzunähern.» Aber nur wirkliche Fälschungen könne er verfolgen. Jener Hersteller, der den Sultan übers Ohr gehauen hat, bekomme keine Probleme. Er nenne sein Produkt «Balsamico» – und dieser Begriff allein ist nicht geschützt.
Geschmacksfeuerwerk. «Im Gegensatz zu industriell hergestelltem Essig wird bei Aceto balsamico tradizionale lediglich Most aus besten Trebbiana- oder Lambrusco-Trauben als Grundsubstanz verwendet», sagt Galeotto. Die Verarbeitung folgt bis heute einem Rezept, das 1865 erstmals offiziell festgehalten wurde, nachdem Balsamessig, wohl durch Zufall erfunden, die Gaumen von Herrschern schon im ersten Jahrtausend gekitzelt hatte. Dass er sogar Tote zum Leben erwecken könne, ist eine weitere Legende.
«Die Trauben müssen natürlich aus der Gegend stammen», so Galeotto. Dafür und für die lokale Verarbeitung stehen das Qualitätsprädikat Denominazione di origine controllata (DOC) und das EU-Siegel Denominazione di origine protetta (DOP). Die Trauben werden im offenen Kessel bei 80 bis 95 Grad gekocht. Nach 12 bis 36 Stunden wird der nun dunkle Most abgekühlt, filtriert und in Holzfässer gefüllt. Hier setzt die Fermentation durch Essigbakterien ein, die erste Stufe der jahrelangen Reifung, bei der die Flüssigkeit immer weiter andickt, bis sie sich in einen tiefbraunen Sirup mit süss-säuerlichem Aroma verwandelt. Jede Familie hat ihr eigenes Rezept, die Flüssigkeit nach und nach in immer kleinere Fässer aus Kirschbaum-, Eichen-, Kastanien- oder Wacholderholz umzufüllen, was Geschmack und Aroma stark beeinflusst.
Was aber den Aceto so einmalig macht, ist eigentlich – gar nichts: Am besten reift er, wenn man lediglich die Essigfliegen über ihm fortwedelt. Dann können die Bakterien und Enzyme ungestört vergären. Weshalb sich Acetaie üblicherweise auf dem Dachboden der Wohnhäuser befinden, wo es im Winter am kältesten und im Sommer am wärmsten ist.
«Das alles ist bei industriell hergestelltem Aceto natürlich nicht notwendig», sagt Andrea Galeotto. «Dort werden dem Most auch Zucker und Weinessig zugefügt. Und die Reifungszeit beträgt nur 60 Tage, nicht mindestens zwölf Jahre wie bei unserem Produkt.» Industriell hergestellter Essig verhält sich deshalb zu traditionellem wie ein Fiat zu einem Ferrari: Der eine bringt einen von A nach B, der andere bringt das Herz zum Rasen.
Da Essig erst über die Jahre seine Dominanz verliert, explodiert schon ein einziger Tropfen im Mund zu einem Geschmacksfeuerwerk. Ob pur getrunken, auf Parmesan geträufelt, im Salat, als Marinade oder in Longdrinks: Auch die besten Köche der Welt schwören auf das Gewürz. Die Leute in Modena sind ohnehin verrückt nach Aceto. «Hier gibt es Gruppen, die sich dreimal pro Woche in der Kneipe treffen, um Aceto zu kosten», sagt Galeotto. Denn ein zertifizierter Tester müsse seinen Geschmackssinn zumindest sechs Jahre lang trainieren.
Für eine gute Acetaia reicht dies freilich bei weitem nicht – jedenfalls nicht für jene, die Paola Ferrara in einer früheren Bowlingbahn bei Modena führt. Sie hat ihren eigenen Weinberg und verkauft auch Most, also den aufgekochten Traubensud. Ferrara sei ein Aceto-Doktor, sagt ihr Onkel Aristide. «Ihr Vater war so verrückt, dass er seine ganze Hypothek in Fässer angelegt und Aceto sogar in einem alten Schirmständer angesetzt hat.» Von ihm habe die Tochter alles gelernt.
Ferrara hilft ihren Kunden, wenn es um leckgeschlagene Fässer geht oder um Reifungsprobleme. Sie hat auch die Batterie eines schwedischen Aceto-Fans bei sich untergestellt – nur in Modena darf er die offizielle Bezeichnung tragen – und die Fässer des Ex-Diplomaten Comte Pignatti, dessen Kinder sich so sehr misstrauen, dass sie die Batterien lieber in Ferraras Obhut sehen. Und wie es hier Tradition ist, hat sie bei der Geburt jedes ihrer Kinder eine neue Batterie angelegt.
So wie bei Giovanna Cati. Sie hat gerade den ersten Aceto aus der Batterie ihrer 25-jährigen Tochter abgeschöpft und überlegt sich, wie sie den Sultan zu einer Degustation bei ihr überreden könnte. Denn: «Wer einmal vom echten Aceto balsamico tradizionale di Modena probiert hat, ist verdorben fürs ganze Leben: Der möchte nie wieder einen anderen Essig.»