Am 5. Dezember 1997 hatte Anton Affentranger genug. Eineinhalb Jahre hatte er sich in der Generaldirektion Schweiz der alten UBS aufgerieben. Jetzt, vier Tage vor der Fusionsbekanntgabe zwischen Bankverein und UBS, stieg er aus. Schweizer Kreditchef der Fusionsbank hätte er werden sollen, wie schon bei der alten UBS. Doch sein Chef hatte ihn schon bei der alten UBS immer blockiert, und auch in der neuen Bank wäre sein Chef der gleiche geblieben - der damalige und heutige UBS-Vize Stephan Haeringer. Das brauchte Affentranger nicht mehr. Er wurde zum Held der gebeutelten Bankgesellen. Als einziger Generaldirektor verliess er das sinkende SBG-Schiff mit erhobenem Haupt.

Heute besetzt Affentranger die zentrale Führungsposition der Genfer Privatbank Lombard Odier - als Vorsitzender der operativen Geschäftsleitung und damit als Chef über mehr als tausend Mitarbeiter. «Ich setze die Strategie der Bank um», betont der 42jährige unmissverständlich an diesem Sommermorgen im Hauptgebäude der altehrwürdigen Bank am Rande der Genfer Altstadt. Zum erstenmal seit seinem abrupten Ausscheiden aus der SBG empfängt er wieder einen Journalisten. Doch er bleibt vorsichtig. Bedachtsam wählt er seine Worte.

Kundennähe als oberste Maxime: «Jeder Partner soll innerhalb eines Nachmittages im Flugzeug sitzen können, wenn ein Kunde das will», sagt Anton Affentranger. Entsprechend hat sich Lombard Odier eine neue Führungsstuktur verordnet.

Das detaillierte Organigramm der neuen Führungsstruktur, nach dem die Bank seit März arbeitet, will er nicht veröffentlicht sehen. «Wir wollen nicht zuviel preisgeben», lächelt er. Seit Januar nennt er sich Chief Executive Officer von Lombard Odier, und hinter dieser Stellenbeschreibung verbirgt sich Revolutionäres - nicht nur für die nach Pictet zweitgrösste Privatbank Genfs, sondern für die gesamte «Welthauptstadt des Private Banking», wie sich Genf vollmundig nennt, seitdem sein Finanzsektor auf die Vermögensverwaltung zusammengeschrumpft ist. Lombard Odier ist dort derzeit das heisseste Thema. Eine ungewohnte Rolle für die Privatbank, die seit 201 Jahren Diskretion und Verschwiegenheit garantiert und als einzige unter den grössten Schweizer Vermögensverwaltungsbanken die Höhe ihrer verwalteten Vermögen noch immer nicht bekanntgibt (die Schätzung liegt bei 95 Milliarden Franken).

Nötig hat sie den Umbau nicht. Das Private Banking, Parade-Industrie der Schweiz und Rückgrat ihrer Volkswirtschaft, hat goldene Jahre hinter sich. In der bilanzRangliste der hundert besten Schweizer Unternehmen belegen die drei Vermögensverwaltungsbanken Bär, Vontobel und Sarasin die ersten Plätze. Doch diese drei Banken sind kotiert und müssen deshalb ihren Gewinn unter zahlreichen Aktionären verteilen. Die Genfer Traditionshäuser dagegen zählen zu den noch 16 reinen Privatbanken des Landes, und ihre Inhaber haften unbeschränkt mit dem eigenen Vermögen. Das macht sie zu den bestbezahlten Bankmanagern der Schweiz. Bei einer Rentabilität von 0,3 Prozent auf den verwalteten Vermögen, wie sie beispielsweise Bär erzielt, ergab sich etwa für Pictet oder Lombard im letzten Jahr ein Gewinn von knapp 300 Millionen Franken, und das macht selbst nach grosszügigen Investitionen und Bonuszahlungen ein Jahreseinkommen pro Associé von mindestens fünf Millionen Franken. «Wir haben das Problem, dass wir zu stark gewachsen sind und zuviel Erfolg haben», betont der Privatbankier Bénédict Hentsch im Namen der Genfer Privatbankiers. Und jetzt passt ein Neuankömmling die Strukturen an diesen Erfolg an.

Zwar demonstrieren auch andere Genfer Häuser eine Öffnung nach aussen. Pictet hat Renaud de Planta, ebenfalls von der alten UBS, zum Teilhaber gemacht, Mirabaud verpflichtete jüngst den langjährigen Staatssekretär Franz Blankart. Doch bei Lombard Odier haben die sieben Besitzer nicht nur einen Aussenstehenden in ihrer Mitte aufgenommen. Sie haben ihn auch gleich zum Chef der gesamten Bank ernannt. «Das war schon eine sehr grosse Überraschung bei uns intern», betont Affentranger. Und nicht nur dort. «Das hat uns sehr erstaunt», sagt der Pictet-Seniorpartner Ivan Pictet. «Wir haben das nicht erwartet», sekundiert Hentsch. «Ein solches Modell entspricht nicht der Kultur einer Privatbank, sondern eher einer Aktiengesellschaft.» Doch sie alle wissen: Wenn das Modell funktioniert, stehen sie unter Zugzwang.

Dass ausgerechnet ein Deutschschweizer einfacher Herkunft, ohne Private-Banking-Erfahrung und bisher nur in Grossorganisationen tätig, die gediegene Genfer Vermögensverwaltung umbaut, ist um so erstaunlicher. Affentranger, als Sohn eines Luzerner Nestlé-Direktors in Argentinien geboren und in Peru und Chile aufgewachsen, stieg nach dem Wirtschaftsstudium in Genf in der SBG-Kreditabteilung in Zürich ein. Fast zehn Jahre - mit einem Jahr Unterbrechung bei dem Zuger Rohstoffhändler Marc Rich - arbeitete er für die Bank in New York («meine prägenden Berufsjahre»), zuletzt als Leiter des Projektfinanzierungsgeschäfts. Nach vier Jahren als Niederlassungsleiter in Hongkong und Genf zog er 1996 in die Geschäftsleitung Schweiz der SBG ein und sanierte das Kreditgeschäft, damals die heikelste Mission im Heimmarkt. Schnell wurde er zum Hoffnungsträger der verkrusteten SBG-Führung. Sein überzeugender Auftritt in der DRS-Fernsehsendung «Arena» machte ihn auch einem breiteren Publikum bekannt. Als offen und selbstkritisch lobten ihn seine Mitarbeiter.

Die «SonntagsZeitung» kürte ihn zum «Banker mit medialen Talenten» und titelte: «Ein Sympathieträger verschafft der UBS wieder neuen Kredit.» Doch intern stiess er mit seiner systematischen Arbeitsweise schnell auf Widerstände. Drei Kompetenzen, so sein Credo, zeichnen einen guten Chef aus: Fachwissen, persönliche Integrität und Führungskraft. Alle drei seien selten anzutreffen, räumt er ein. Doch in der Generaldirektion Schweiz, damals als Parallelorganisation zur Konzernleitung für den Heimmarkt zuständig und geleitet vom heutigen stellvertretenden UBS-Konzernchef Stephan Haeringer, fand er kaum eine von ihnen vor. Schnell kam es zu heftigen Disputen zwischen Affentranger und Haeringer, die die anderen fünf Mitglieder der Generaldirektion meist schweigend ertrugen. Als die Fusion bekanntgegeben wurde, hatte Affentranger genug von Haeringer und dem Ausverkauf seiner Bank.

Auf die Zäsur hatte er sich gefreut, denn ein eindimensionaler Karrierebanker war er nie. Geschichte interessierte ihn schon immer, ebenso moderne Kunst. Seine Frau, eine Schweizer Tänzerin, die er in New York kennengelernt hatte, freute sich auf seine Zeit für sie und die beiden Söhne, und den Marlboro-Zigaretten, denen er zu SBG-Zeiten so heftig zugesprochen hatte, schwor er endlich ab. Doch dann ging alles schneller als geplant. Die ersten Angebote kamen umgehend. Auch Thierry Lombard, den er noch aus seiner Genfer Zeit kannte, trat an ihn heran. Affentranger führte Einzelgespräche mit jedem der Partner, und das gab schliesslich den Ausschlag. Damals war jedoch von dem neuen Chefposten noch keine Rede. «Es war geplant, dass ich die Kunden in Lateinamerika betreue», betont Affentranger. Doch dann begann eine lange Diskussion der sieben Partner mit dem Neuankömmling, und am Ende stand das neue Modell. Auf die Frage, ob die Associés ihn einstimmig zum neuen Chef gewählt hätten, kommt erst nach längerem Schweigen ein «Ja». Widerstände unter den sieben Teilhabern, deren Zusammenhalt Gerüchten zufolge weniger stark ist als bei der Konkurrenz, dürfte es schon gegeben haben. Ohne die Unterstützung der beiden Seniorpartner der Bank, Thierry Lombard und Patrick Odier, wäre die Einführung des neuen Modells jedoch unmöglich gewesen.

«Wir haben uns gefragt: Was ist das wichtigste für den langfristigen Erfolg?» beschreibt Affentranger den Prozess. «Das Ergebnis war Kundennähe.» Dies bestätigt auch der jüngste Private-Banking-Survey von PricewaterhouseCoopers. Als wichtigsten Erfolgsfaktor nennen die befragten Bankchefs dort die Fähigkeit, Kunden zu gewinnen (siehe «Kunde vorn» auf Seite 42). Der Wettbewerb um die Reichen der Welt ist so hart wie nie zuvor, seitdem immer mehr Grossbanken - nicht nur in der Schweiz - nach Blessuren im Investment Banking in dieses risikoarme und margenstarke Geschäft drängen. Der Hauptvorteil einer Privatbank ist da der direkte Kontakt eines Partners mit den umworbenen Kunden, denn den können die Grossbanken nicht bieten. «Jeder Partner soll innerhalb eines Nachmittages im Flugzeug sitzen können, wenn ein Kunde das will», betont Affentranger. Dazu mussten die Associés jedoch von ihren operativen Pflichten entbunden werden. Zudem war die Bank in den letzten Jahren so stark gewachsen, dass sie nicht mehr zu führen war mit der Struktur einer familiären Partnership, laut PricewaterhouseCoopers ohnehin nur die drittbeste Organisationsform im Private Banking (siehe «Universalbank vorn» unten). Die grossen Niederlassungen in London und Amsterdam, dazu der stark expandierende Ableger in Zürich, dessen Mitarbeiterzahl sich von heute fünfzig in den nächsten Jahren verdoppeln soll, brauchten eine professionell-straffe Führung.

So entstand das «sehr starke, einmalige Modell» (Affentranger), das den Spagat schaffen soll zwischen der persönlichen Betreuung einer traditionellen Privatbank und der effizienten Organisation einer Grossbank. Die Veränderungen sind radikal: Affentranger führte ein Group Executive Board mit elf Mitarbeitern ein, unter seinem Vorsitz. Zwei der Mitglieder, ein Engländer und ein Holländer, sprechen kein Französisch, und deswegen finden die Sitzungen auf englisch statt - für eine Genfer Privatbank eine Revolution. Neben dem CEO gibt es einen Finanzchef, auch das eine Premiere in einer Genfer Privatbank, darunter gibt es die drei Kundenkategorien Privatkunden, institutionelle Kunden und Distributionspartner sowie sechs Service-Einheiten. Darüber stehen analog zu einem Verwaltungsrat die anderen sieben Associés, die keine operative Verantwortung mehr haben und sich um die Kunden kümmern. Nebenbei haben fünf von ihnen noch strategische Schwerpunkte (siehe «Die neue Lombard-Odier-Führungsstruktur»).

Doch wenn die Teilhaber weiter unbeschränkt haften, können sie dann die operative Verantwortung wirklich delegieren? «Als CEO bin ich nicht weisungsbefugt über die anderen Teilhaber, sondern über die Organisation», betont Affentranger. «Strategische Entscheide treffen wir weiterhin in der Partnership.» Hier sehen Kritiker die Schwachstelle des Modells - der kollektive, einstimmige Entscheidungsprozess aus alten Zeiten soll bestehen bleiben, parallel dazu gibt es neu eine starke Zentralgewalt wie bei einer Aktiengesellschaft. Sind da Konflikte nicht vorprogrammiert? «Wenn Konflikte kommen, lösen wir sie gemeinsam», betont Affentranger vielsagend. Auch bei der Frage nach dem Börsengang, dem nächsten Schritt zu einer wirklichen Grossbank, zeigt sich das Dilemma. Der brächte den acht Teilhabern nach gängigen Börsenmassstäben mindestens vier Milliarden Franken. Doch er interessiert sie nicht, denn Geld haben sie ohnehin im Überfluss, weshalb ihr proklamierter Lebensinhalt durchaus ernst zu nehmen ist: die Bank ihren Nachfahren besser zu übergeben, als sie sie übernommen haben. «Einen Börsengang schliessen wir kategorisch aus», sagt denn auch Affentranger. Um jedoch mehr Topleute zu halten, schliesst er nicht aus, zukünftig mehr Aussenstehende zu Partnern zu machen - und die dürften den Familienidealen weniger verbunden sein.

Bislang stand Lombard Odier meist im Schatten von Pictet. Jetzt überlegt sich die grösste Privatbank Europas, den kleineren Rivalen zu kopieren. Zwar will sie in der Delegation nicht so weit gehen, dass ihre Associés wie bei Lombard Odier überhaupt keine operative Verantwortung mehr haben. «Wir wollen eine Zwischenlösung - mehr delegieren als jetzt, aber trotzdem mehr Hands-on als Lombard Odier», sagt Ivan Pictet. «Es ist möglich, dass wir einen Chef fürs Tagesgeschäft einsetzen, einen Chief Operating Officer.» Doch nicht sofort. Erst muss Anton Affentranger den Konkurrenten beweisen, dass das neue Modell seiner Bank wirklich überlegen ist.

 

Partner-Inhalte