Analog kriegt man so schnell nicht tot. Das durchdigitalisierte Leben lässt etwas länger auf sich warten, denn ein paar Dinge machen mit dem Smartphone einfach keinen Spass. Allen voran das Zeitmanagement. Die Agenda im Handy fördert nur Stress. Darum ist die Papierversion nie verschwunden. Einige Menschen sind der festen Überzeugung, dass sie sogar für immer bleiben wird.
«Die Digitalisierung hat den Wert des Analogen erhöht», sagt Eva Accola. Die Schweiz-Chefin des schwedischen Herstellers Bookbinders Design beschwört die «persönliche Seite» der Papieragenda: «Sie hat einen warmen Touch – hier schreibe ich nicht nur einen simplen Termin hinein.»
«Die Agenda ist ein wichtiges Accessoire»
Papier schenkt uns ein Gefühl der Sicherheit. Ein greifbarer Beweis mit nostalgischer Komponente. «Die Agenda ist kein Gebrauchsartikel, sondern ein wichtiges Accessoire», sagt Marco Moscatelli, Leiter Kommunikation des Büroartikelherstellers Biella, des Schweizer Marktführers für Papieragenden.
Die Vorstellung, mithilfe von Apps alles zu digitalisieren, was uns in der analogen Welt als Last erschien, ist überholt. Wir haben Visitenkarten eingescannt und festgestellt, dass wir es vermissen, mit dem Daumen über das geprägte Wappen auf dem Papier zu streichen. Und eine digitale Alternative zum Post-it haben wir gar nicht erst gefunden.
Verkäufe steigen wieder
Dass sich die Papieragenda als Planungstool nicht vom digitalen Pendant ablösen lässt, zeigen auch die Zahlen. Zwar stagniert der Markt für Papier, Bürobedarf und Schreibwaren, doch der Bereich mit Papieragenden wächst seit drei Jahren wieder. Im Vergleich mit 2015 werden 2018 pro Kopf sieben Prozent mehr ausgegeben. Die Zahlen stammen aus Deutschland, können aber auch auf die Schweiz übertragen werden, wo die Branche keine eigenen Messungen erhebt. Marktführer Biella verkauft jährlich Agenden im Wert von rund sechs Millionen Franken.
Bei Bookbinders Design stürmen die Stammkunden die sechs Schweizer Filialen jeweils schon im Oktober. Kein anderes Produkt wird in diesem Monat öfter verkauft als die Agenda. Das Sortiment wurde in den letzten Jahren noch ausgebaut. Die teuerste Ausführung – ein Modell mit Lederumschlag – kostet 58 Franken. Es gibt sie in sechs verschiedenen Farben, und man kann den Inhalt jedes Jahr auswechseln. «Die Farben spielen eine immer wichtigere Rolle», beobachtet Geschäftsführerin Eva Accola.
Moleskine – Marketingwunder aus Italien
Eine der meistverkauften dieses Jahr sei die Lederausführung in knalligem Gelb. «Klassische Farben wie Bordeaux oder Dunkelblau sind out und weichen bunten und schrillen Modellen», stellt auch Biella-Sprecher Moscatelli fest. Die Firma experimentiert zudem mit einem Umschlag aus Polyurethan, einem Kunststoff, dem sich mit einer Prägung ein Zweifarbeneffekt entlocken lässt.
Einer der Haupttreiber des Wachstums dürfte Moleskine sein – das Marketingwunder aus Italien. Gepusht mit einer üppig geschmückten Geschichte von Schriftstellern und Künstlern, die das Kunstlederbuch mit leeren Seiten beschrieben und geliebt haben sollen, starteten die Mailänder vor 20 Jahren ihren Feldzug durch Bücherläden, Kioske und Papeterien. Seit 2010 verdreifachte Moleskine den Umsatz auf 155 Millionen Euro und verdrängte seither den Agenda-Platzhirsch Filofax von den besten Displays der Büroartikelabteilungen. Inzwischen verkauft die börsenkotierte Firma auch Rucksäcke, Handyhüllen und Lesebrillen. Neuester Coup ist ein 200-Franken-Kugelschreiber mit digitalem Gedächtnis. Was mit dem «Smartpen» in die Agenda geschrieben wird, erscheint gleichzeitig auf dem Smartphone. Digitale Papierspielereien für Unentschlossene.
Mach es doch selber!
Andere starten gleich in der Königsdisziplin: Matthias Göbel, Social-Media-Verantwortlicher von BILANZ und «Handelszeitung», hat ein System adaptiert, das Digital-Affinität mit Analog-Pragmatismus verbindet. Es heisst Bullet Journal und ist nichts anderes als eine Do-it-yourself-Agenda mit ein paar Effizienzregeln. «Die herkömmliche Agenda-Einteilung passt vielleicht einem Beamten», sagt der 54-Jährige. «Aber wenn man individueller arbeiten will, ist Bullet perfekt.»
Die Vorgaben sind einfach: Man richtet einen Index sowie eine Jahres-, Monatsund Tagesübersicht ein. Die Jahresplanung wird mit langfristigen Terminen und Aufgaben gefüllt, der Monat und die Tage sind kurzfristiger. Hinzu kommen Symbole, die die Art des Termins und die Relevanz bezeichnen. Jeder Eintrag wird anschliessend bearbeitet: Ist er abgeschlossen, erhält er ein Kreuz. Wenn nicht, wird er je nach Relevanz ausrangiert oder in die Zukunft übertragen.
Die Agenda erhält mit dem Bullet Journal ihre ursprüngliche Intention zurück: Herr werden über die Zeit. Eine Errungenschaft, zu der das Smartphone bestenfalls komplementär beiträgt. «Digital mag ja gut sein für Termine, aber nicht fürs Zeitmanagement», sagt Göbel. Vieles, was er zuvor auf Notizzettel gekritzelt hat, verarbeitet er nun im Bullet. «Ich mag handschriftliche Notizen. Wenn du etwas aufschreibst, setzt du dich intensiver damit auseinander.» Das Problem mit den Zetteln war eben, dass sie oft unbeachtet herumlagen. Vieles ging wieder vergessen.
Bullet-Journal-Erfinder wollte simple Lösung
Ähnlich erging es dem Bullet-Journal-Erfinder Ryder Carroll. Der 37-jährige Digital-Designer aus Brooklyn stammt aus einer Künstlerfamilie und entwickelte das System vor sechs Jahren, um Ordnung in sein persönliches Alltags-Chaos zu bringen. Als Kind wurde bei ihm eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung diagnostiziert. Er suchte nach einer simplen Lösung, die ihm die Kontrolle zurückgeben und gleichzeitig Raum für Kreativität lassen würde.
Seine Idee schlug ein wie eine Bombe. Nach einem TEDx-Auftritt kamen die ersten Artikel. Bullet sei «ein entscheidender Unterschied zu digitalen To-do-Listen, da es Reflexion erfordert», schwärmte das «Wall Street Journal». Carroll startete eine Bullet-Website, sammelte 80 000 Dollar auf Kickstarter und ging eine Kooperation mit Leuchtturm1917 ein, dem Moleskine-Konkurrenten aus Hamburg. Die Seiten des Bullet-Journal-Buchs von Leuchtturm1917 sind bereits paginiert und haben vorgedruckte Rasterpunkte für eine einfachere Gestaltung.
Ein erheblicher Anteil der 20 bis 25 Franken, die das Buch in der Schweiz kostet, fliesst auf Carrolls Konto. Daneben verdient er Geld mit einer Begleit-App und dem Buch «Bullet Journal Method», das soeben auf Deutsch erschien. «Yes, the business does support me», sagt Carroll auf die Frage, ob er davon leben könne.
Instagram-Wunder
In den letzten zwei Jahren entstand so etwas wie eine Bewegung. Instagram listet bereits drei Millionen Einträge. Die Bullet-Anhänger fotografieren ihre anspruchsvoll gestalteten Agendaseiten – oft erweitert um Mondphasen oder Stimmungsbarometer. Sie lassen ihre Follower daran partizipieren, wie sie mit dem Papierplaner Kontrolle über ihren Alltag gewinnen. Das häufigste Kompliment, das er bekomme, sagt Carroll, sei, «dass es Menschen geholfen hat, mit sich selbst in Kontakt zu treten und in der Lage zu sein, ihr Leben mit mehr Vorsatz und Bestimmung zu leben». Wenn das kein Grund ist, wieder auf Papier umzusteigen.
Dieser Artikel erschien in der Dezember-Ausgabe 12/2018 der BILANZ.