BILANZ: Frau Zegna, als Mitglied der Familie Ermenegildo Zegna sind Sie in ein Umfeld hineingeboren worden, bei dem der Lebensstil eine entscheidende Rolle spielt. Wie hat Sie das geprägt?
Anna Zegna: Mein Vater war Industrieller in Sachen Mode. Und das hat sich natürlich auf die Lebensumstände unserer Familie ausgewirkt. Qualität und Tradition standen bei ihm stets ganz oben. Beispielsweise kauften wir unsere Kleider nicht in Geschäften, sondern bekamen sie genäht. So wie das uns von unseren Eltern vorgelebt wurde, die ausschliesslich Masskleidung trugen. Dieser Lebensstil hat uns als Kinder geprägt, war uns aber nicht bewusst.
Wie wurden Sie erzogen?
In der klassischen italienischen Tradition, sehr familienbezogen. Bei uns wurde Wert auf Etikette gelegt. Wenn mein Vater geschäftlichen Besuch erwartete, wurden wir eigens dafür herausgeputzt. Im schulischen Alltag hatte Kleidung keinerlei Bedeutung, wir trugen Uniformen.
Später haben Sie und Ihre Geschwister die Geschicke der Firma in die Hand genommen. Wie hat sich der zu Hause erlebte Stil auf die Arbeit ausgewirkt?
Wenn man in Italien lebt und Mode macht, dann muss man sich zwangsläufig mit seinem kulturellen Umfeld auseinander setzen. Das eine kann nicht ohne das andere funktionieren. Lebensstil hat in Italien einen hohen Stellenwert, die historischen Epochen wie Renaissance und Barock, das alles ist gewachsene Kultur und prägt unsere Ästhetik. Der aktuelle, moderne italienische Stil ist auch wieder berühmt, sei es in der Architektur, im Möbeldesign, in der Kunst oder der Mode: Meiner Meinung nach setzt sich die alte kulturelle Tradition fort, und was wir heute leben, ist die Quintessenz dieser Entwicklung. In diesem Umfeld zu arbeiten, ist für uns als Modemacher natürlich ein grosses Glück.
Sie lassen sich also von den kunsthistorischen Einflüssen inspirieren?
Es gehört zu meinen Aufgaben bei Ermenegildo Zegna, die Architektur und Inneneinrichtung der Läden zu gestalten und damit das Firmenimage zu kommunizieren. Daher befasse ich mich auch intensiv mit Wohnkultur.
Kann man Ihren Einrichtungsstil als typisch italienisch bezeichnen?
Heute ist der Zugang bei der Innenarchitektur global. Damit ich moderne Strömungen und Einflüsse einfangen kann, besuche ich beispielsweise regelmässig die Mailänder Möbelmesse. Dort spüre ich dann die aktuellen globalen Trends auf, was wiederum in meine Entwürfe einfliesst. Die beiden Kulturen in mir fusionieren sozusagen zu etwas Neuem. Das ist spannend. Ähnlich ist es bei der Esskultur. Denken Sie an die Fusion-Cuisine, bei der sich westliche und östliche Küche zu etwas geschmacklich Einzigartigem vereinen.
Welche Stilfusion gibt es bei Zegna?
Nehmen Sie als Beispiel unseren Laden in Shanghai. Er befindet sich in einem Bauwerk mit westlicher Architektur der dreissiger Jahre. Ganz bewusst und als Kontrast zu dieser äusseren Hülle haben wir die Innenarchitektur in chinesischem Stil konzipiert. Dieses Aufeinandertreffen von total verschiedenen Kulturen ergibt einen spannenden, dynamischen Mix. Deshalb finde ich es ungemein wichtig, dass man die unterschiedlichen Kulturen und ihre Ausprägungen pflegt und respektiert.
Aber diese kulturellen Einflüsse aus anderen Lebenskreisen gab es ja auch schon vor der Globalisierung.
Ja natürlich. Denken Sie nur, welch grossen Einfluss China im ausgehenden Mittelalter auf unser gesamtes kulturelles Leben hatte. Wir verdanken den Chinesen unter anderem das Porzellan und die Seide.
Wie wichtig ist Ihnen Ihr persönlicher Lebensstil?
Er ist Teil meines Lebens. Und ich habe viele Jahre gebraucht, ihn so zu entwickeln, wie er heute ist. Ästhetik, Kunst und Musik sind Teil meines Lifestyles, ich liebe die Veränderung.
Das ist ein ständiger Prozess?
Ja, mein Arbeitsumfeld verändert sich auch permanent. Das ist die tägliche Evolution in meinem Leben. Und ich lasse mich gerne anregen. Wenn ich etwas Neues sehe, das mir gefällt, dann will ich es haben. Dann erneuere ich meine Garderobe oder kaufe etwas Neues für daheim. Das war schon so, als ich 25 war. Ich habe mich seither verändert, weiterentwickelt. Ich finde, Veränderung ist eine exzellente Möglichkeit, in Bewegung zu bleiben, nicht stillzustehen. Es ist natürlich auch anstrengend, man muss sich ständig bilden, Musik hören, Kunstausstellungen besuchen.
Gibt es auch Momente, in denen Stilbewusstsein den Blickwinkel verkleinert?
Grundsätzlich nicht. Auch wenn ich mir vorstellen kann, dass es Leute gibt, die sich zum Sklaven ihres Stilverständnisses machen. Das ist eine Sucht wie Drogen oder Schokolade. Fashion Victims oder Konsumjunkies sind schliesslich längst Begriffe, die in die Sprache eingeflossen sind.
Und was tut man dagegen?
Man denkt nach, reflektiert. Man muss sich sein eigenes Urteil bilden und nicht jedem Trend hinterherrennen. Stil kann ja auch einfach heissen, das Leben zu vereinfachen. Die Menschen neigen viel zu sehr dazu, auf Äusserlichkeiten zu schauen, um zufrieden zu sein. Ich halte es für wichtig, eine Balance zwischen den wesentlichen Dingen wie Familie, Freunde, Arbeit, Kunst und Kultur herzustellen. Das macht einen Lebensstil aus.
Braucht es Geld, um einen besonderen Stil zu pflegen?
Geld ist natürlich ein wichtiger Aspekt. Aber es ist auch eine Frage der Priorität, wie ich es einsetze. Viele Menschen geben viel Geld für nutzlose Kleinigkeiten in schlechter Qualität aus. Ich habe lieber wenige Dinge, dafür aber in guter Qualität, die mir etwas bedeuten. Weniger ist mehr.
Gilt das auch für Ihre Mode?
Meine persönliche Philosophie deckt sich mit der meiner Firma: lieber ein paar gute Stücke fürs Leben als den Schrank voller minderwertiger Fummel. Ein hochwertiges Teil kann man, falls die Mode ändert, mit Accessoires oder einer neuen Kombination wieder attraktiv machen. Ich halte das für richtig, weil es auch im ökologischen Sinn verantwortungsbewusst ist. Man sollte nicht ständig alles wegwerfen. Durch eine bewusste Haltung wird man zur Persönlichkeit und prägt einen damit verbundenen Stil.