Vorne debattierten primär Journalisten, aber auch ein Medienwissenschaftler, ein Jurist und eine Politikerin durften mitreden. «Zwischen Wahrheit und Täuschung – lügen uns die Medien an?» hiess die Podiumsdiskussion an der Zürcher Universität.

Lügen uns die Medien an?

Um die grosse Frage zuerst im Kleinen zu untersuchen, betrachten wir am besten, wie die beiden Zürcher Tageszeitungen «Tages-Anzeiger» und «Neue Zürcher Zeitung» über die Podiumsdiskussion zur medialen Lügenfrage berichteten.

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Keine Überraschung – sie berichteten sehr unterschiedlich: Während die eine Zeitung etwa die Aussagen des Medienwissenschaftlers als überflüssiges «Gesäusel» einschätzte, bedauerte die andere, dass derselbe Medienwissenschaftler zu wenig Gehör gefunden hatte. Während die eine Zeitung die «Autorität» des Juristen beschrieb, vermeldete die andere dessen Hang zu persönlichen Abrechnungen. Und so fort.

In ihrer Berichterstattung zur Lügenfrage lagen die rapportierten Wahrheiten der zwei Zürcher Tageszeitungen jedenfalls so weit auseinander, dass wir als Leser zur Eingangsfrage getrost sagen dürfen: Eine der beiden hat mit Sicherheit gelogen. Vielleicht auch beide.

Mit den zwei rapportierten Wahrheiten zu ein und demselben Anlass wird uns Lesern der Schlüsselbegriff der gegenwärtigen Mediendiskussion vorexerziert – die so genannte Meinungsvielfalt. Und wir sehen gleich, wo die Crux dieser Meinungsvielfalt liegt. Wir bekommen zwar zwei verschiedene Meinungen serviert. Aber wir bekommen dadurch nicht zwingend die Wahrheit serviert.

Dennoch lieben Politiker diesen dubiosen Begriff der Meinungsvielfalt über alles. Im neuen Radio- und Fernsehgesetz soll der Staat – wer denn sonst? – die Meinungsvielfalt überwachen. Und auch im geplanten Medien-Verfassungsartikel soll laut Nationalratskommission der Staat – wer denn sonst? – die Meinungsvielfalt fördern. Besonderes Anliegen ist der Politik die Meinungsvielfalt in jenen Regionen, in denen nur noch eine einzige monopolistische Tageszeitung aus einem einzigen Verlagshaus existiert, also überall, ausser in Zürich, Bern, Winterthur, Liestal, Neuenburg, Solothurn, Freiburg, Genf, im Jura, Oberaargau, Limmattal, Zürcher Oberland, Wallis, Tessin und anderswo.

Politikern und anderen, welche die Meinungsvielfalt unbedingt fördern wollen, erzähle ich gelegentlich aus meiner Jugend. Ich bin in Solothurn aufgewachsen. Hier gab es, als ich lesen lernte, drei Tageszeitungen: die «Solothurner Zeitung», freisinnig, die «Solothurner Nachrichten», katholisch-konservativ, und «Das Volk», sozialdemokratisch. Alle drei Zeitungen betrachteten Solothurn und die Welt aus einer rein parteipolitischen Optik. Alle drei waren hemmungslos tendenziös, alle drei betrieben ebenso gezielte wie lustvolle Desinformation.

Meinungsvielfalt, da hilft keine rückblickende Romantisierung, ist historisch oft nicht mehr als die Addition verschiedener Desinformationen. Und auch im aktuellen Medienschaffen beobachten wir, wie die Zielvorstellung der Objektivität zunehmend wieder durch subjektive und ideologisch getünchte Wahrnehmungen ersetzt wird.

Dass die Politik dennoch die so genannte Meinungsvielfalt überinterpretiert, hat mit der spezifischen Denkungsart der Classe politique zu tun. Sie justiert ihr Weltbild via Interessengegensätze: Arbeitgeber–Arbeitnehmer, Stadt–Land, sozial–liberal, zentralistisch–föderalistisch. Wenn sie erfolgreich sein will, hat sie diese Gegensatzpaare zu balancierten Lösungen zu integrieren. In der Politik findet der Konsens im Normalfall in der Mitte von auseinander liegenden Positionen statt. Nun überträgt die Politik diese Mechanik fälsch-licherweise auf die Medien und übersieht dabei den entscheidenden Unterschied: Schweizer Politiker polarisieren, um zu integrieren. Schweizer Medien polarisieren, um zu polarisieren.

Oder, um auf die Eingangsfrage zurückzukommen: In der Politik ist der Mittelwert von zwei Meinungen häufig sachgerecht. In den Medien ist der Mittelwert von zwei Lügen noch keine Wahrheit.

Eine kleine persönliche Anmerkung: Dies ist die letzte «Arena» in der BILANZ. Die Kolumne wechselt sozusagen ihre Trägerschaft und erscheint ab Januar 2004 wöchentlich in der «Weltwoche».