Der Zeitpunkt für das Treffen ist mit Bedacht gewählt. Es findet morgens um halb zehn Uhr statt, weil es dann noch ruhig ist im Bucherer-Geschäft am Schwanenplatz in Luzern. Guido Zumbühl, CEO der Bucherer Gruppe, hat sich in Schale geworfen: dunkelblauer Anzug, weisses Hemd, blau-weisse Krawatte, Double Monkstraps. Gleiches gilt für Patrick Graf, Chief Commercial Officer der Gruppe. Sein Outfit: dunkelblauer Anzug, weisses Hemd, blau-weisse Krawatte, Double Monkstraps. Dass sie wie doppelte Lottchen daherkommen, fällt den beiden nicht auf. Darauf angesprochen, mustern sie sich gegenseitig – und brechen in Gelächter aus.
Zumbühl und Graf sind die Frontrunner von Bucherer und wirbeln derzeit mächtig Staub auf. Zumbühl dirigiert das Unternehmen seit 2009. Davor war er während zehn Jahren der Finanzchef. Graf ist seit 2016 dabei, davor war er kurz bei TAG Heuer und fast zehn Jahre Manager der Flughafen Zürich AG. Zumbühl hat Graf «als einen von aussen» geholt und ihm den Auftrag erteilt, neue Perspektiven und neuen Schwung in die 131-jährige Firma zu bringen. Nicht, dass das Geschäft lahmen würde, im Gegenteil, es sei «in den letzten zehn Jahren mit einer Ausnahme von Rekord zu Rekord» gehüpft, sagt Zumbühl.
Phantom Jörg G. Bucherer
Konkreter wird er nicht, Kenngrössen wie Umsatz und Gewinn sind die Privatsache von Jörg G. Bucherer, dem alleinigen Besitzer und Verwaltungsratspräsidenten des Unternehmens. Der 83-Jährige, dessen Vermögen von BILANZ auf 2 bis 2,5 Milliarden Franken geschätzt wird (kostenpflichtiger Link), mag keine Presse. Unter Journalisten heisst es, mit diesem Mann einen Termin zu bekommen, sei schwieriger, als eine Audienz beim Papst zu erhalten. Auf eine entsprechende Anfrage wurde denn auch umgehend reagiert. Mit zwei Worten: «No chance.»
Antworten auf grosse Fragen, etwa, wie es mit dem Uhren- und Schmuckimperium weitergeht, wenn der Patron nicht mehr lebt, werden mit höchster Vertraulichkeit behandelt. Auskünfte zum unternehmerischen Zahlenwerk ebenfalls. Die einzigen Chiffren, die während des Gesprächs fallen, sind 33, 32 und über 2400, Anzahl Geschäfte in Europa und USA sowie Anzahl Mitarbeiter. Was den Umsatz betrifft, kursieren Schätzungen von 800 Millionen bis 1,6 Milliarden Franken im Jahr. Diese quittiert Zumbühl mit hochgezogenen Augenbrauen, spitzbübischem Lächeln und einem stummen No-Comment. Und den gängigen Superlativ «Bucherer ist der grösste Uhren- und Schmuckhändler der Welt» kühlt er auf «einen der grössten» herunter. So glamourös sein Metier ist, so diskret ist seine Rede.
Bucherer ist topfit. «Wir haben keine Schulden, erzielen Rekordergebnisse, und nun ist es extrem wichtig, dass wir dranbleiben, denn in den nächsten fünf Jahren wird nochmals alles neu gemischt», sagt Zumbühl, «jetzt müssen wir unsere Hausaufgaben machen.» Neuen Schwung braucht der Handelspartner aller Schweizer Uhrenhersteller mit Rang und Namen nicht für heute, sondern für die Zukunft. Treiber sind Entwicklungen wie die, dass selbst superteure Uhren inzwischen online verkauft werden, sowie die Tendenz renommierter Uhrenhersteller, ihre Zeitmesser in eigenen Boutiquen zu inszenieren und zu verkaufen – oft zulasten von Multimarkenhändlern wie Bucherer.
Statt den Lauf der Zeit zu beklagen, ergreifen die Luzerner die Flucht nach vorn. Das erklärte Ziel heisst, sich als Uhrenhändler online wie offline so gut aufzustellen, dass die Schweizer Topmarken von A wie Audemars Piguet bis Z wie Zenith um Bucherer als Verkaufskanal nicht herumkommen.
Treffpunkt statt Trutzburg
Der Vorwärtsdrang scheint ganz nach dem Gusto des Besitzers zu sein, die Geldschleuse jedenfalls ist offen. Es fliessen Millionen in E-Commerce und vor allem in die Umgestaltung der Filialen. Läden sind der Bucherer’sche Königsweg zum Kunden – und sollen es auch bleiben. «Wir machen alles dafür», sagt Jörg Baumann, Marketingchef und Projektleiter des Remakes an der Zürcher Bahnhofstrasse.
Vom Bucherer von einst ist da ausser der Gebäudegrundstruktur nichts mehr übrig: alles neu, alles anders. Die Fassade ist ein Mosaik aus riesigen, bis zu fünf Tonnen schweren Platten Cristallina-Marmor aus einem Tessiner Steinbruch. Und im Innern wird Bucherer gerade neu erfunden. Auf einem Hindernislauf durch die Baustelle Mitte März schwärmt Baumann hier von einer imaginierten Sitzbank mit freiem Blick auf die Bahnhofstrasse, dort von Tischchen für eine Espresso-Pause. Und er erzählt von sanft gelockerten Kleidervorschriften fürs Verkaufspersonal und vom Ende des Zweimeterschranks im schwarzen Anzug, der den Eingang versperrt. Was hier seit Ende März geöffnet hat, ist cool, gestylt, mehr Treffpunkt als Trutzburg.
Die Umgestaltung ist nicht L’art pour l’art, sondern darauf angelegt, langfristig für Kundschaft attraktiv und für Hersteller relevant zu bleiben. Es gibt viel zu verlieren. Gemäss einer Studie von Morgan Stanley werden vier Prozent des schweizweiten Uhrenumsatzes online kassiert, Tendenz steigend, acht Prozent in Markenboutiquen, Tendenz steigend. Den grossen Rest, 88 Prozent, nehmen gemäss Morgan Stanley die autorisierten Uhrenboutiquen ein. Die Ausgangslage ist also feudal, die Aussichten sind es in Anbetracht der Bewegung, die ins Geschäft gekommen ist, weniger. Ihre Zukunftsvision für Bucherer haben Graf und Zumbühl entsprechend hoch gehängt: «Jemand, der über den Kauf einer Uhr nachdenkt, soll automatisch zu Bucherer kommen», sagt der CEO.
Angriff auf Amerika
Auf die Frage, was Graf inzwischen sonst noch im Familienunternehmen bewirkt hat, antwortet der 44-jährige CCO: «Das wird in den nächsten zwei Jahren sichtbar, vor allem in den USA.» Dort hat Bucherer vor einem Jahr die grösste Akquisition in der Firmengeschichte getätigt und den führenden Luxusuhrenhändler Tourneau gekauft, mit 28 Läden in zehn Bundesstaaten und der führenden E-Commerce-Plattform für neue und vor allem gebrauchte Uhren mit Händlergarantie, sogenannte CPOs. Letztere gelten als das nächste grosse Ding in der Uhrenwelt.
Dank der Akquisition von Tourneau muss Bucherer in den USA, gemäss Bain & Company nach Europa der zweitwichtigste Markt für Luxusgüter, nicht kleckern, sondern kann klotzen: Tourneau, höchst etabliert, aber etwas verstaubt, wird aufgegeben und in Bucherer umfirmiert. «Ein starkes Branding ist das Einzige, was für uns Sinn macht», sagt Graf. Nur: Bucherer ist in den USA ein No-Name. Um das zu ändern und für Millionen potenzieller Kunden zum Begriff für Uhren und Schmuck zu werden, «werden wir nun Akzente setzen», sagt Zumbühl.
Erster Akzent wird das Flaggschiff von Tourneau an der 57th Street in New York, 1700 Quadratmeter gross. Im Innern wird wie in Zürich von Grund auf alles anders, auch für Bucherer selbst. Zumbühl erzählt, dass am Anfang, als die Pläne entstanden, die Designer auf mehr Mut seitens Bucherer gepocht hätten und das inzwischen umgekehrt sei. «Wenn sie heute Vorschläge bringen, sind wir es, die fragen, ob es nicht etwas disruptiver geht», lacht er.
Uhren werden im Hause Bucherer nicht nur verkauft, sondern seit 1919 auch hergestellt. 2001 schälte der Firmeninhaber Jörg G. Bucherer die Uhrmacherei aus dem Uhren- und Schmuckhandel heraus und schickte sie als Carl F. Bucherer, kurz CFB, in die unternehmerische Selbständigkeit. Der Hauptsitz der Marke ist in Luzern. Hergestellt werden die Uhren in der eigenen Manufaktur in Lengnau im Berner Seeland.
Carl F. Bucherer zählt heute zu den angesehensten Schweizer Manufakturen. So wurde sie 2018 in den erlauchten Kreis der rund 45 Partner der Fondation de la Haute Horlogerie (FHH) aufgenommen. Das erklärte Ziel dieser Stiftung ist es, die hohe Kunst der Uhrmacherei, ihre Traditionen und Standards zu fördern und zu wahren.
Über den FHH-Ritterschlag freute sich einer ganz besonders: Sascha Moeri. Er führt CFB seit 2010 als CEO mit Erfolg: Seit er steuert, hat er den jährlichen Output auf über 27 000 Uhren 2018 verfünffacht. Tendenz weiter steigend, aber nicht ins Unendliche: «Carl F. Bucherer wird immer eine exklusive Manufaktur bleiben», sagt Moeri. Wo die Grenze ist? «Es werden sicher keine 200 000 werden.»
Die Uhren liefert Moeri an weltweit 400 Verkaufsstellen, davon 300 unabhängige in 28 Ländern. Darunter natürlich Bucherer, aber auch bereits 14 von 28 Filialen von Tourneau, jenem US-Luxusuhrenverkäufer, der seit 2018 zur Bucherer Gruppe gehört.
Der grösste Markt für Carl F. Bucherer ist mit einem Umsatzanteil von 40 Prozent Europa, dicht gefolgt von Asien, wo CFB in China, Hongkong, Taiwan und Japan mit eigenen Töchtern präsent ist – mit grossen Ambitionen: 2018 hat Moeri auf JD.com den ersten virtuellen CFB-Flagship-Store eröffnet und auch noch einen echten in Hongkong. Höchst geschickt spielt er die Karte «Ambassador»: In Fernost steht Filmstar Li Bingbing für die Marke, in der westlichen Hemisphäre befeuern Filme wie «Fast & Furious» und «John Wick» das Begehren und in der Schweiz der Fussball: Carl F. Bucherer ist der offizielle Timekeeper der Nati.
Die New Yorker beflügeln die Luzerner. So kommt es, dass Bucherer parallel zum Umbau des Flaggschiffs an der 57. Strasse auch einen Versuchsballon im Trendquartier SoHo startet, wo Verkaufen gerade neu erfunden wird: Luxusgüteranbieter verziehen sich von den teuren EG-Lagen in obere Stockwerke, mieten Wohnungen und empfangen dort Kunden wie Freunde zu Drink, Dinner, Dialog. Beziehungspflege und -aufbau sind erste Priorität, verkaufen ist zweitrangig, ergibt sich oder nicht. «Wir haben viele Ideen, wie wir das umsetzen wollen», sagt Graf. Sicher wird es ein Bucherer, wie man ihn noch nicht kennt. Gemäss Zumbühl ist das SoHo-Vorhaben das erste als Pilot deklarierte Projekt in der 131-jährigen Firmengeschichte. «Vor fünf Jahren wäre das undenkbar gewesen», sagt er und fügt an, «wir sind definitiv mutiger geworden.»
Akzent Nummer 2 wird Bucherers CPO-Version. «Da konnten wir viel lernen von den Kollegen in den USA», sagt Graf, und Zumbühl verspricht: «Wir werden das vollkommen neu umsetzen, wie man es noch nie gesehen hat.» Im Sommer beginnt der Handel mit zertifizierten Secondhand-Uhren zuerst online, ab Herbst wird es echte Standorte geben, auch in der Schweiz.
Rolex und Bucherer: Zwei wie Tag und Nacht
Ein dritter Akzent schliesslich wird mit weiteren Übernahmen in den USA gesetzt. Städte wie Los Angeles, Dallas und Houston sind von der Klientel her vielversprechend, auf der Bucherer-Karte aber weisse Flecken. «Wenn wir das ändern können, werden wir das tun», sagt Zumbühl. Dass dem so ist, hat sich bereits herumgesprochen. Bucherer gilt seit der Übernahme von Tourneau auf der anderen Seite des Atlantiks als sicherer Hafen, und es gehen Angebote von alteingesessenen Uhren- und Schmuckhändlern ein, deren Nachwuchs es zu Google zieht, nicht ins Ladengeschäft der Eltern. «Wenn sich eine gute Gelegenheit ergibt, prüfen wie das natürlich», sagt Zumbühl, «zur Abrundung.»
Zugelangt hat er im Fall Baron & Leeds mit fünf Geschäften in Hawaii und Kalifornien, darunter zwei Rolex-Boutiquen. Letztere dürften den Ausschlag gegeben haben für diesen Deal: Bucherer ist der grösste Rolex-Verkäufer der Welt. Oder? Baumann sagt dazu, «das hört man so, kann ich aber nicht kommentieren»; Zumbühl verkleinert auch diesen Superlativ zu «einem der grössten Rolex-Händler», und Graf sagt: «Es ist so, aber wir wollen uns nicht damit brüsten.» Gegen die Feststellung, dass Bucherer und Rolex je existenziell für den andern sind und zusammengehören wie Tag und Nacht, hat keiner etwas einzuwenden. Die beiden Familienunternehmen sind engstens miteinander verwoben, und das seit bald 100 Jahren.
Gebremste Rennpferde
Der Erfolg dessen, was Zumbühl, Graf und Baumann derzeit anstreben, hängt wesentlich davon ab, dass es gelingt, alle Mitarbeiter in Europa und den USA mitzureissen. Diese Aufgabe hat es in sich: «Wir brauchen ein neues Selbstverständnis», sagt Zumbühl. Wie die Courage, Dinge anders zu machen, Fehler zu erlauben und daraus zu lernen, untypisch zu sein.
Das Denken in den Köpfen der Menschen zu verändern, sei etwas vom Schwierigsten, sagt Graf, der in dem Zusammenhang neudeutsch von «Mindset-Change» spricht. Um ihn in Gang zu bringen, wurden zahlreiche neue Positionen geschaffen und mit Leuten besetzt, die nicht nur aus der der Perfektion verpflichteten Uhren- und Schmuckbranche kommen, sondern auch aus der schnelllebigen Mode-, Event- oder IT-Welt. Und es passiert, was in solchen Fällen eigentlich immer passiert: Die Neuen überrumpeln die langjährigen Mitarbeiter, und die leisten Widerstand. «Es ist gar nicht schlecht, wenn die Rennpferde, die wir einstellen, auch einmal gebremst werden», sagt Zumbühl dazu.
Auch bei den Mitarbeitern in den USA ist Mindset-Change angesagt, «nur das Logo auswechseln reicht nicht», sagt er. US-Verkaufspersonal ist traditionell provisionsgetrieben und daher in erster Linie darauf aus, schnell zum Abschluss zu kommen.
Fragt sich, was eine Expansion nach Asien für den Bucherer-Mindset bedeuten würde. Das nächste grosse Ding? «Jetzt nicht, aber sag nie nie», sagt Graf. In Asien jedenfalls ist der Uhren- und Schmuckhändler nicht vertreten, vom Büro, das Beziehungen zu Touroperators pflegt, abgesehen. Umsatz mit Chinesen, Koreanern, Japanern, Taiwanesen und Indern wird im Hauptgeschäft am Schwanenplatz gemacht. Dort strömen die Touristen aus Fernost ab Mittag Bus-weise in den gediegenen Laden. Erwartungsgemäss auch an diesem Tag.
Blau ist die Hausfarbe von Bucherer, und die Blue Editions sind die Spezialität des Hauses. Das Konzept: Renommierte Uhrenmarken aus dem Sortiment stellen von ihren beliebtesten Modellen blaue Versionen her, die es dann nur bei Bucherer zu kaufen gibt. Bislang entstanden so 34 Sondermodelle. Ihre Preise bewegen sich zwischen 965 Franken für die blaue Tissot, die eben herausgekommen ist, und 275 000 Franken für die «Traditionelle» mit Tourbillon von Vacheron Constantin.
Kuratiert wird das blaue Sortiment von Bucherer-Uhrenchef Patrick Graf, und der blickt dabei weit über den Tellerrand hinaus. Er sagt selbst, er habe die Idee «stark ausformuliert und entwickelt». So lancierte er 2018 nicht nur blaue Uhren, sondern im Frühling auch eine Blue Edition einer Harley-Davidson, mit Verkaufspreis 1,888 Millionen Franken die teuerste Harley ever. Und im Herbst entstand dank der engen Partnerschaft von Roger Dubuis mit Lamborghini nicht nur eine blaue Dubuis, sondern auch ein Lamborghini Aventador S in «Blu Kairos».
Künftig werde in der blauen Linie auch weniger Testosterongeladenes herauskommen, sagt Graf, Schmuck zum Beispiel und Lifestyliges zu demokratischeren Preisen, ein Velo vielleicht oder Kopfhörer.
Dieser Artikel erschien in der April-Ausgabe 04/2019 der BILANZ.