Die Diskussionen gleichen sich. Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz gilt das soziale Sicherheitssystem als nicht mehr finanzierbar. Die demografisch erfassbare Alterung der Gesellschaft und die chronische Wachstumsschwäche gelten als Hauptursachen.
Die Ähnlichkeit der Diskussion steht in seltsamem Kontrast zur Unterschiedlichkeit der Rahmenbedingungen.
Das Buch «Wohlstand durch Gerechtigkeit» unternimmt den Versuch, die Sozialpolitik von Deutschland und der Schweiz systematisch miteinander zu vergleichen. Es ist der erste gross angelegte Versuch dieser Art.
Beim Vergleich der Rahmenbedingungen fallen zunächst die erheblichen Unterschiede auf. So verfügt die Schweiz über die ältere republikanische Tradition. Die deutsche Republik hat Geburtsjahr 1918 und ist somit wesentlich jünger. Ihr Gründungsmythos ist mit Versailles negativ besetzt, ihre weitere Geschichte durch totalitäre Phasen gebrochen.
Auch die heutigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind extrem unterschiedlich: regulierter Arbeits- markt in Deutschland, kaum Regulierungen in der Schweiz. Hohe Staatsquote in Deutschland (47 Prozent), niedrige in der Schweiz (35 Prozent). Hohes Staatsdefizit in Deutschland (3,7 Prozent des BIP), niedriges in der Schweiz (1 Prozent). Das deutsche Sozialversicherungssystem ist auf den Arbeitnehmer fokussiert, das schweizerische, vor allem die AHV, auf den Bürger.
Die politischen Entscheidungsprozesse tragen das Ihre zur Unterschiedlichkeit bei. Die Schweiz kennt das System der Referendumsdemokratie mit Neigung zum Konsens, Deutschland die Parteiendemokratie mit korporatistischen Elementen, das heisst eine Herrschaft der Verbände.
Die Autoren, 30 Wissenschaftler aus beiden Ländern, enthalten sich der Wertung, welches System nun besser sei. Sie bieten kaum Patentrezepte an. Denn jede Massnahme kann höchst unerwünschte Nebenwirkungen zeitigen. Die Autoren pflegen die alte sozialwissenschaftliche Tugend, in gesellschaftlichen Prozessen alles mit allem verknüpft zu sehen. Und dann verbieten sich «grosse Würfe» wie von selbst. Soziale Probleme können nur in kleinen Schritten angegangen werden. Die muss man dann allerdings gehen – um sie in der Folge gegebenenfalls zu korrigieren.
Erwin Carigiet, Ueli Mäder, Michael Opielka, Frank Schulz-Nieswandt (Hrsg.)
Wohlstand durch Gerechtigkeit
Rotpunkt Verlag, Zürich,
399 Seiten, Fr. 38.–