Im Jahr 1910 erschien in Berlin ein Buch mit dem Titel «Die Welt in hundert Jahren». Fachleute aus allen möglichen Disziplinen gaben ihre Vermutungen zum Besten, wie wir heute leben würden. Sie waren erstaunlich treffsicher – solange es um die technische Entwicklung ging. Die massenhafte Verbreitung von Handys war für unsere Altvordern ebenso erahnbar wie die Beschleunigung des Flugreiseverkehrs oder das Fernsehen. Etwas schwerer taten sie sich mit den sozialen und weltpolitischen Veränderungen. Da blieben sie doch sehr in der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts gefangen.
Matthias Horx, der aus dieser Jahrhundertschrift zitiert, schaut dennoch nicht weniger weit in die Zukunft. Dabei interessieren ihn die technologischen Zukunftsperspektiven deutlich weniger als die möglichen Veränderungen im Zusammenleben der Menschen. Was in 100 Jahren als moderne Technik gelten wird, so glaubt er, sei heute bereits absehbar, weil naturwissenschaftlich erkannt oder als Blaupause vorliegend. Man könnte hemmungslos über die praktischen Folgen der nanotechnischen Forschungen von heute spekulieren und läge damit womöglich im Jahre 2106 gar nicht so falsch.
Nicht linear fortzuschreiben sind hingegen unsere allgemeinen zukünftigen Lebensbedingungen, die Kultur und die Zivilisation. «Je schneller das Neueste zum Alten wird, desto schneller kann Altes wieder zum Neuen werden; jeder weiss das, der nur ein wenig länger schon lebt.» Wachsender Wohlstand brachte in den Sechzigern die alternative Gegenbewegung hervor, die sich dem «Konsumterror» widersetzte; die Mobilität erzeugt den Trend zum Cocooning; die Anbetung des Schönen und der Wellness-Wahn erzeugen den Drang zum Trash – ein Blick ins TV-Programm zeigt dies.
Für Horx entsteht Zukunft durch drei Faktoren: erstens durch Zufälle, zweitens durch die Gesetzmässigkeiten lebendiger Systeme, die wir verstehen lernen müssen, und drittens durch menschliches Handeln. Das Handeln kann dumpf und bösartig sein. Deshalb müssen wir es durch Verhandeln, durch Übereinkünfte bändigen. Eigentlich dreht sich Horx’ Buch nur um diese Frage: Was müssen wir vorkehren, damit wir keine düstere Zukunft bekommen, sondern eine Welt, in der es sich lohnt zu leben?
Matthias Horx: Wie wir leben werden
Campus Verlag, Frankfurt, 350 Seiten, Fr. 43.70