Cinuos-chel ist kein Touristenort; der Regionalzug führe am Dörfchen vorbei, wenn der Reisende nicht Halt verlangt hätte. Zum Glück für den Besucher verkündet der Lautsprecher den Ort; der Gast täte sich schwer mit der Aussprache. Fern, fremd und verschlafen hat das 150-Seelen-Dorf aber durchaus seinen Reiz: So viel Natur und Tradition, so viel Engadin und urige Schweiz wie in Cinuos-chel bekommt ein Reisender nur selten zu Gesicht.
Wie die Eisenbahn im Schnee fast lautlos verschwindet, kurvt ein Offroader von der Dorfstrasse auf den Bahnhofplatz. Der Architekt Christian Klainguti kennt das Gelände blind und manövriert sein Auto geschickt. Freundlich heisst er seine Gäste willkommen und chauffiert sie über ausladende Eisblatern – vorbei an stattlichen Bündner Häusern und hält vor dem grössten an. Wie just bei unserer Ankunft die Sonne auf die mit Sgraffito-Stuck verzierte Front scheint, wirkt das Haus wie ausgestellt. Allein dass Kunst bewohnt werden kann, verrät die Post, die aus dem Briefkasten quillt. Und dass die Kunst achtsam gepflegt wird, beweist der Reisigbesen vor der Tür.
Die Decke ist auch ein Boden
Durch das Rundtor gewährt der Hausherr Einlass und ringt den Besuchern ein Staunen ab. Dass der Gang so breit, die Decke so hoch sind, hätte man von aussen nicht erwartet. Der Duft von Lärche liegt in der Luft – ob er vom Parkett oder von den Stützbalken ausgeht, ist schwierig zu bestimmen. «Durch den Sulèr, den Gang, haben die Pferde früher den Heuwagen direkt in den Heustall gezogen», erklärt Christian Klainguti. «Deshalb ist dieser Raum so breit und so hoch.»
Rechts vom Sulèr ist das Arbeitszimmer angebaut, links die gemütliche Arvenstube: Boden, Decke, Buffet und Tisch – alles aus heimischen Hölzern gefertigt. Im Gegensatz zum Sulèr hängt die Stubendecke tief, so tief, dass die Gäste beim Eintritt den Kopf einziehen. «Der Raum ist so niedrig, damit die Wärme erhalten bleibt», erläutert der Hausherr und weist auf den imposanten Kachelofen, dem eine Sitzbank vorgelagert ist. In der Decke ist eine Holztreppe eingelassen, die die Gäste ins Elternschlafzimmer über der warmen Stube führt. «Sehen Sie die Deckbalken von der Stube?», fragt Klainguti im oberen Stock und zeigt auf den Boden des Schlafgemachs. Tatsächlich lassen sich am Schlafzimmerboden Bretter und Balken der Wohnzimmerdecke abzählen. «Zwischen Decke und Boden ist gar nichts», sagt Klainguti, «Decke und Boden sind eins.»
Hinter dem Wohnzimmer befindet sich eine gemütliche Küche, die Chadafö, wie sie auf Romanisch heisst. Angemalt in leuchtendem Weiss und sattem Türkis wirkt sie trotz kleiner Fenster frühlingshaft luftig. «Die Wände sind aus Steinen gemacht, zur Sicherheit, weil die früheren Besitzer auf offenem Feuer kochten», sagt Klainguti. Und da ihnen Beton als Baumaterial noch unbekannt war, wurde der Raum in Schichten gegen oben abgerundet. So ist also keine Decke im Haus wie die andere: Tief in der Stube, hoch im Sulèr und rund wie in einer Kuppel in der Chadafö.
Am hinteren Ende des Sulèr führt die Haupttreppe in den oberen Stock. Vom grosszügigen Fernsehraum über dem Korridor zweigen ein buntes Kinderzimmer ab – dass die Tochter im Teenager-Alter ist, ist unschwer zu erraten – und ein Badezimmer. Dieses ist ganz und gar Klaingutis Werk, denn er selbst hat die sanitären Anlagen eingebaut. Allerdings verrät der persönlichste Raum des Hauses Klaingutis Sinn für Nostalgie: Auf vier Füssen steht eine wackere Badewanne, über zwei glänzend weissen Lavabos hängt ein grosszügiger Spiegel. Wer hier badet, so viel ist gewiss, putzt auch seine Laune heraus.
Funktionalität im Vordergrund
Am Ende des Sulèr – und genau gegenüber der Eingangstüre – ist ein zweites rundes Tor, das den Wohnraum vom Heustall trennt. Dort wird jahrhundertealte Bauernschläue ersichtlich: Über die im Heustock eingelassene Klappe konnten die Landwirte das Vieh im unteren Geschoss mittels weniger Handgriffe mit Futter versorgen.
Die Trilogie des Erdgeschosses wurde auch auf der unteren Etage beibehalten: Unter Stube, Küche und Vorratskammer (Chamineda, wie sie die Engadiner nennen) reihen sich drei Keller aneinander. Zwei gebraucht Klainguti als «Rumpelkammern», im dritten hat er erlesene Weine gelagert.
Wie die edlen Tropfen mit der Zeit an Reife gewinnen, ist auch Klaingutis Heim erst über die Jahre zu dem Bauernhaus geworden, das es heute ist. Gebaut wurde es vor vierhundert Jahren im Jahr 1611; eine gerahmte Federzeichnung im Sulèr hält die Aufrichte fest. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts haben die Bewohner zusätzliche Wohnräume gebaut, als mit den Kindern der Bedarf nach Wohnraum stieg. Und im 19. Jahrhundert wurde das Haus sorgfältig renoviert.
Den vorerst letzten Schliff verpasste dem Haus aber Klainguti selbst: Behutsam hat er die Holzwände abgelaugt, das Bad getäfert und einzig die Schlafzimmerwände in sanftem Blau gestrichen. «Die verschiedenen Bauperioden sind alle noch ersichtlich», sagt Klainguti. «Der Boden in der Küche stammt tatsächlich aus dem Jahr 1611.»
Was dem Besucher heute als schön erscheint, war vor Jahrhunderten eine Frage der Funktionalität. «Im Vordergrund stand beim Engadiner Bauernhaus immer die Nützlichkeit», fasst Christian Klainguti zusammen. Die Dimensionen der Räume, deren Form und Aufteilung, das Baumaterial und die Ausstattung sind also so, wie sie damals sein mussten: Geräumig, funktional und sicher.
Dieser Pragmatismus von Klaingutis Vorgängern ist auch an den Aussenwänden ersichtlich: Sogar der Sgrafitto-Stuck, – Erzeugnis der anno dazumal im Engadin verbreiteten Handwerkskunst des Kratzputzes und typische Verzierung des Bündner Bauernhauses – hatte einen Sinn: Er sollte die Unregelmässigkeiten im Mauerbau camouflieren und die über allem stehende bauliche Bau-Ordnung wiederherstellen. Gegenwärtig bieten in Klaingutis Haus zwei Geschosse Wohnraum von 340 Quadratmetern. Dazu kommen ein Estrich mit 80 Quadratmetern, diverse Keller mit 70 Quadratmetern und ein Stall mit 100 Quadratmetern. «Würde der Stall ausgebaut, lägen weitere 200 Quadratmeter drin», sagt der Hausherr.
Architekturstudium an der ETH
Seit genau zwei Jahrzehnten wohnt Christian Klainguti im Engadinerhaus. Nach Abschluss seines Architekturstudiums an der ETH Zürich hat er das Anwesen in Cinuos-chel bezogen, das einst seiner Grossmutter gehörte. Zwar ist Christian Klainguti in Südfrankreich geboren und dort auch aufgewachsen. Doch regelmässig hat er Sommer- und Winterferien in Cinuos-chel verbracht. Wie er erzählt, hat er niemals geplant, sich als Architekt auf die Renovation traditioneller Engadiner Bauernhäuser zu spezialisieren. Sein Erbe hat ihm dann aber offensichtlich den Weg gewiesen.
Christian Klainguti lebt heute in Trennung, aber sein Engadinerhaus geniesst er nach wie vor, das durch schiere Grösse besticht und die Bewohner mit heimeligem Licht umspielt. Das Haus wäre aber nicht sein Heim, wenn er ihm nicht mit einer liebevollen Einrichtung eine ganz persönliche Note verliehe: Mit dem Vintage-Motorrad Norton 16H Einzylinder am Treppengeländer, dem schweren Ledersessel im Sulèr, dem opulenten Kronleuchter in der Arvenstube, dem Kerzenständer, dem Hirschgeweih, den realistischen Blumenskizzen und dem Bärenfell im Mädchenschlafzimmer, dem Klainguti aus einer Laune heraus den Namen Emil gegeben hat.
Auf die Frage, ob er mit dem alten Haus auch Kompromisse eingegangen sei, antwortet er: «Einmalig, ja, als ich am Türrahmen den Kopf angeschlagen habe.» Und schmunzelnd fügt er an: «Und das Putzen des grossen Hauses kann ein Albtraum sein.» Für die «Klarheit und Symmetrie», die ihm das Haus bietet und die ihm als Hausherr so reizvoll erscheint, nimmt er den Aufwand aber gerne in Kauf.
Klarheit und Symmetrie sind ihm auch Massstab und Inspiration für seine tägliche Arbeit als Architekt; auch für Neubauten, die er mit seinem Kollegen Göri Valär in Angriff nimmt. «Die alten Formen übernehmen wir nicht, weil sie heute keinen Nutzen mehr haben», sagt Christian Klainguti, «aber an den Proportionen, der Klarheit in der Abgrenzung der Kuben, orientieren wir uns auch bei neuen Projekten.»
Dass die Region überhaupt gut daran täte, den Wert der alten Bauten zu erkennen und entsprechend zu schützen, bezeugen diverse Negativbeispiele nahe Cinuos-chel. Die modernen Überbauungen fördern zwar den Fremdenverkehr, gefährden aber Natur und Kultur der Region. Als Mitglied der baulichen Planungskommission der Cinuos-chel einschliessenden Gemeinde S-chanf ist Christian Klainguti mit diesem Thema gut vertraut. Wiewohl er betont, dass die Veränderung von St. Moritz als Beispiel nicht erst in den letzten Jahren geschehen sei, hat er Bedenken gegenüber den aktuellen Bautätigkeiten im Engadin. Im Moment werde allerdings viel zum Schutz der alten Bauten und Dörfer unternommen, und ein spätes Erkennen sei besser als gar keines.
Was den Umgang mit den jahrhundertealten Bauernhäusern betrifft, setzt er sich ein für klare Richtlinien: «Die alte Bausubstanz darf auf keinen Fall kaputt gemacht werden.» Die Engadinerhäuser und Bündner Dörfer sind Christian Klainguti so wichtig, dass er auch Vorgaben befürwortet, die seine eigene Arbeit an neuen und alten Häuser betreffen können.
Kulturelles Erbe bewahren
Wie sich der Hausherr – zwischen Briefkasten und Reisigbesen – von seinen Gästen verabschiedet, schweift sein Blick über den nahen Nadelrain, der als Ausläufer des Engadiner Nationalparks gedeiht. Seit gut 100 Jahren wird in der Region Zernez das jahrtausendealte natürliche Erbe gehegt.
Dass in Cinuos-chel auch das kulturelle Erbe bewahrt wird, ist mitunter auch Christian Klaingutis Verdienst. Nicht nur, weil er sich in der Planungskommission um notwendige Massnahmen bemüht. Nicht nur, weil er als Architekt alte Engadinerhäuser renoviert. Sondern auch, weil er als Hausherr ein 400-jähriges Bauernhaus pflegt. Und wenn er beim Eintritt in seine Stube auch den Kopf einziehen muss; im Aufwand für Heim und Heimat, im Einsatz für das Engadin, lässt sich Christian Klainguti nicht so schnell kleinkriegen und steht aufrecht wie eine Arve im Wind seine Wurzeln verleihen ihm Standhaftigkeit.
Sulèr: Früher sind die Bauern mit ihrem Fuhrwerk durch den hohen Gang direkt in den Heustall gefahren. Heute dient der Sulèr als attraktiver Wohnraum.
Egadinerhaus
Das Engadinerhaus benennt einen Bauernhaus-Typ, der im Engadin, im Tirol und im Südtirol vorkommt und sich bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Erkennbar ist er an den wuchtigen mit Sgraffito-Technik verzierten Steinmauern, den tiefen Fensterfluchten und den Rundbogentoren. Die typischen Elemente waren ursprünglich nicht der Ästhetik, sondern einer umfassenden Funktionalität verpflichtet.
Erdgeschoss
Hinter dem Haupttor befindet sich der Sulèr. Durch den hohen Gang haben die Pferde das Heufuder direkt in die Scheune gezogen. Längs des Sulèr reihen sich an die Stüva, an die Wohnstube, eine Küche (Chadafö), und eine Vorratskammer (Chamineda).
Untergeschoss
Der Wohnbereich des Untergeschosses ist in Entsprechung zum Erdgeschoss dreigeteilt; unter Stüva, Chadafö und Chamineda befinden sich drei Keller. Das Tor trennt den Viehstall ab, der von den Heubühnen auf dem Erdgeschoss erreicht werden kann.
Obergeschoss
Ein Treppenhaus auf der Rückseite des Sulèr führt ins Obergeschoss. Über der Stube mit dem Ofen befindet sich das Elternschlafzimmer, über der Küche und der Vorratskammer schliessen weitere Schlafkammern an.