Echte Innovationen sind rar in der Uhrenwelt. Die Branche besinnt sich zurück auf die Historie und blickt ins Archiv, um Ideen für Vintage-angehauchte, neue Modelle zu finden. Das Wiederentdecken der guten alten Zeit zwischen den 1930er und 1960er Jahren führt bisweilen zu Bizarrem. Ein Hersteller setzte kürzlich sogar Zifferblätter mit künstlicher Patina ins Gehäuse. Nicht mehr nur Jeans werden «stonewashed», jetzt also auch Uhren. Und dann gibt es Ressence. Die kleine, belgische Uhrenmanufaktur, die so ganz anders tickt als die grossen Maisons.

Das jüngste Beispiel für die Schaffenskraft des Ressence-Gründers Benoît Mintiens ist die mit dem iPod-Designer Tony Fadell entwickelte Konzept-Uhr Type 2 «e-Crown». Es handelt sich um die erste mechanische Uhr, die jederzeit die korrekte Zeit anzeigt – unabhängig davon, wie lange die Uhr nicht mehr getragen worden ist. Ein kleines, solarbetriebenes Modul macht es möglich. Zweimal auf das Zifferblatt tippen genügt – und der Träger weiss, wie spät es ist. Bequem kann zudem eine zweite und dritte Zeitzone über eine App eingestellt werden. Ein Meilenstein seit Erfindung der Krone 1842.

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«Das kann ich besser»

Zur Uhrmacherei kam Benoît Mintiens indes eher zufällig. Vor der Gründung von Ressence 2010 arbeitete er als Berater für eine Designagentur und betreute Kunden wie die französische Bahn. Nebenbei half er einem befreundeten Industriedesigner bei einem Uhrenprojekt und besuchte erstmals die Baselworld.

Ihm ist anzumerken, wie enttäuscht er von der Messe und den grossen Marken war und ist. Wenig kreativ und rückwärtsgewandt seien die Kollektionen. Einer der wenigen Aussteller, die ihn beeindruckten, war Urwerk. Er staunte, dass es möglich war, mit vergleichsweise bescheidenen Ressourcen eine eigene Marke zu etablieren. Da schwor er sich, nach Basel zurückzukehren. Nicht irgendwann, sondern im nächsten Jahr mit einem ausgereiften Prototyp.

Sein eigenes Briefing für das erste Modell lautete schlicht: Ich muss mir die Uhr leisten können. Die Uhr soll spannend sein, sodass darüber berichtet wird, ohne dafür extra Werbung zu bezahlen. Und die Uhr soll speziell sein, aber nicht zu speziell. Jedermann soll sie als Uhr erkennen. So viel sei verraten – bis auf den ersten Punkt löste Mintiens die Aufgabe tadellos.

Benoît Mintiens

Benoît Mintiens: Arbeitete zunächst als Berater für eine Designagentur.

Quelle: Lea Meienberg / 13 Photo

Zeiger schweben auf dem Glas

Motiviert begann er an Sonntagen und am Abend das wenig später patentierte Scheibensystem «Rocs» auszutüfteln. Scheiben, nicht Zeiger sollten die Zeit anzeigen. Das Hauptmerkmal seiner einzigartigen Konstruktion ist die radikal verbesserte Ablesbarkeit. Die Zeiger scheinen auf dem Glas zu schweben. Mintiens nennt es schlicht «augmented readability».

Ergonomie bedeutet für einen Designer wie ihn eben nicht nur Tragekomfort, sondern auch, wie schnell und einwandfrei die Zeit abgelesen werden kann. Aus spitzem Winkel ist das bei einer Ressence genauso gut möglich, wie wenn direkt von oben auf die Uhr geblickt wird. Kein Vergleich zu traditionellen Anzeigen, wo Glas, Stunden-, Minuten-, Sekundenzeiger und Zifferblatt je eine eigene Ebene bilden.

Und das gesamte Zifferblatt befindet sich in Bewegung, Taktgeber ist der Minutenzeiger. Stunden und Sekunden drehen sich in Scheiben und wandern um den Mittelpunkt des Zifferblatts.

Es geht um Minuten

«Beim Blick auf die Uhr ist der Minutenzeiger der wichtigste. Die Einschätzung, ob wir den Zug erwischen oder verpassen, hängt davon ab. Menschen haben meist ein intuitives Verständnis für Stunden», sagt Mintiens. Zu Beginn ist es ungewohnt, dem Zeitverlauf nach Ressence-Art zu folgen.

Doch wer sich auf den Minutenzeiger konzentriert, erblickt die Schönheit und Einfachheit dieser etwas unkonventionellen Zeitanzeige rasch. Auf der Internetseite ressencewatches.com befindet sich ein Simulator der Modelle. Spielerisch ist dort das Zeitablesen erlernbar.

Der ehrgeizige Benoît Mintiens erreichte sein selbstgestecktes Ziel tatsächlich. 2010 kehrte er zurück nach Basel mit einem Prototyp im Gepäck. «Ich kam einen Tag zu spät an», lacht er. Er hatte den Pressetag am Mittwoch vergessen – und als er die Halle am Donnerstag betrat, war die Messe bereits in vollem Gange. Beim Ursprungsmodell befand sich die Krone noch auf der klassischen Position bei drei Uhr. Eine Kleinserie von fünfzig Stück wurde verkauft.

In der ersten «richtigen» Kollektion, der Type 1, wanderte die Krone dann auf die Rückseite und seither ist sie dort geblieben. Eigentlich ist die gesamte Rückseite die Krone. Der Vorteil ist nicht nur, dass die Krone beim Tragen nicht mehr stört, sondern, dass das Zeiteinstellen intuitiver gelingt als bei klassischen Uhren. Wird die Rückseite um 10 Grad gedreht, dreht sich auch der Minutenzeiger um 10 Grad. Dabei hat es Mintiens bei neuen Techniken in der Uhr nicht belassen.

Ressence Type1

Ressence Type 1 Squared. «Augmented readability» vom Feinsten.

Quelle: Lea Meienberg / 13 Photo

Zusätzlich schwimmen ab der Modellreihe Type 3 die Zeitanzeige-Scheiben in Öl. Das verbessert die Ablesbarkeit und verringert die Reibung zwischen den Scheiben, was die Uhren wartungsärmer macht. Da Öl je nach Temperatur eine unterschiedliche Dichte aufweist, reguliert ein Balgsystem diese Volumendifferenz. Die Bewegung des mechanischen Uhrwerks wird mit Magneten auf das Scheibensystem übertragen und ein hydraulischer Dämpfer schützt vor Stössen. Der Erfindergeist des Belgiers wurde 2013 mit dem Grand Prix d’Horlogerie de Genève ausgezeichnet.

Ressence-Uhr Type3

Ressence Type 3, eine moderne Ikone. Die neugestaltete Box ist kugelrund und besteht aus einem Muster von Ressence-Logos, gefertigt im 3D-Drucker.

Quelle: Lea Meienberg / 13 Photo

500 Teile: 99,8 Prozent «Made in Switzerland»

Die hohe Komplexität der Ressence-Uhren – verbaut werden bis zu 500 Teile (Type 2 «e-Crown») – ist ihnen nicht anzusehen. Benoît Mintiens ist durch und durch Industriedesigner. Nichts soll von der Funktionalität ablenken: «Eine Uhr ist zum Zeitablesen da. Punkt.» Und weiter: «Brücken und andere Werkteile, die offengelegt werden, stören nur; und glänzende, grelle Materialien lenken ab.» Die Branche ist laut Mintiens von Materialisierung besessen. Er von «De-Materialisierung». Das schätzen Liebhaber weltweit. Es erstaunt nicht, die Uhren wirken auf eine angenehm moderne Art zeitlos.

Nur mit einer limitierten Kleinserie von zwanzig Stück einer Type 1 Squared für das amerikanische Uhrenliebhaberportal Hodinkee hat Mintiens sein eigenes Credo etwas geritzt. Darauf angesprochen, wird er diplomatisch. Eine Ressence zu skelettieren, war wohl nicht seine Idee.

Er mag es lieber clean: Die startende Concorde im Bild an der Wand im Atelier und sein süddeutscher Sportwagen spiegeln das. Mintiens ist eben kein Uhren-Freak, der von raren, alten Preziosen von Patek Philippe, Rolex und Heuer träumt. Eine Schweizer Uhr hat es ihm immerhin angetan: die Stimmgabeluhr Bulova Accutron Spaceview – sie besitzt wie die Ressence-Uhren keine Krone bei drei Uhr und war für die damalige Zeit revolutionär.

Anspruchsvolle Lieferkette

Vorreiter tragen auch seine Uhren, im Silicon Valley ist Ressence beliebt. Je nach Modell kostet so viel Hightech «Made zu 99,8 Prozent in Switzerland» 20 000 bis 40 000 Franken. «Zu teuer», gesteht Mintiens und ergänzt mit «noch». Ob die Erhöhung der Produktionszahlen, die er anstrebt, den Preis zu senken hilft, bleibt offen.

Mit der aktuellen Lieferkette sei das nicht möglich, konstatiert er. Passende Zulieferer zu finden, wird schwierig. Seine Ansprüche sind hoch. Wunschkandidaten befinden sich möglicherweise ausserhalb der Schweiz – vielleicht in Glashütte und Japan?